OLYMPIA Der Kongress der Verlierer
Die Konferenzhalle im China World Hotel hat keine Fenster, an den Wänden klebt Strukturtapete, an der Decke hängen Kronleuchter. Der Teppich in Chinas Farben, Rot und Gelb, schluckt alle Schritte. Auf dem Podium vorn sind 41 Funktionäre aufgereiht, hinter ihnen leuchten blau die Bilder vom Himmelstempel, vor ihnen liegen 41 Blumengebinde, die aussehen, als kämen sie aus der Requisitenkammer der Kommunistischen Partei.
In der Mitte des Podiums sitzt Jacques Rogge, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. Es ist Donnerstag vergangener Woche, noch 120 Tage bis zur Eröffnungsfeier der Spiele. Rogge trägt eine blaue Krawatte, seine Augen verschwinden zwischen dicken Tränensäcken und wuchernden Augenbrauen. Er spricht das sanfte Englisch eines Frankophonen, der Belgier hat die perfekte Stimme für einen Friedensnobelpreisträger, den Mikrofonständer umfasst er mit hartem Griff. Er braucht Halt in diesen Tagen.
Die Welt war ein Hurrikan letzte Woche und das China World sein Auge. Für sieben Tage trafen sich in dem Hotel die obersten Funktionäre des Sports. Es konferierte die Exekutive des IOC, es tagte die Generalversammlung der 205 nationalen olympischen Komitees. Konzile, Arbeitsgruppen und Kontinentalverbände berieten sich, sechs Stunden am Tag, oft mehr. Die Repräsentanten von Weltsportverbänden waren da, dazu Assistenten, Lobbyisten und Manager. Die ganze olympische Familie. Es wurde oft und gut gegessen.
Eigentlich war eine normale Sitzungswoche geplant gewesen, reine Routine. Dann floss Blut in Tibet, jetzt ist alles anders.
Für Rogge symbolisiert die Fackel immer noch »den Frieden und die Einheit der Welt«, aber sie ist längst ein Signal des Protests. Seit Sonntag ist Rogge im China World, und jeden Tag schlagen die Bilder und Nachrichten aus der Welt da draußen ein wie kleine dreckige Bomben: aus London die Prügelszenen. Aus Paris die erloschene Fackel. Aus San Francisco die Hundertschaften der Polizei in schwarzen Uniformen. Aus Washington das Zögern Bushs. Aus London die Absage von Gordon Brown. Aus Brüssel die Drohung, die Eröffnungsfeier zu boykottieren. Aus Berlin die Vorwürfe im Bundestag, das IOC betreibe Duckmäuserei. Jeden Tag eine kleine Explosion. Es hört nicht auf. Das IOC hat die Kontrolle verloren.
Alles unter Kontrolle zu haben, das ist das, was das IOC eigentlich am besten kann. Alles ist geregelt in dieser Welt, es gibt eine Charta, es gibt Protokolle, Gremien, Ausschüsse, Vorgaben.
Die Verträge des IOC sind Meisterwerke detailbesessener Juristen, in denen sogar das Unmögliche in Paragrafen gefasst wird. Aber für das, was in Tibet passiert ist, gibt es kein Protokoll, keine Charta, keinen Vertrag, der alles regelt. Jacques Rogge leidet.
Im Konferenzsaal des Hotels, fünf Sterne, 714 Zimmer, das beste in ganz Peking, warten 700 Delegierte, dass Rogge sich zur Lage äußert. Eigentlich warten sie schon seit Wochen.
Er räuspert sich. »Wir sind ernsthaft besorgt über die Situation in Tibet. Ich rufe zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf.« Ja, sagt er dann, die Athleten dürften ihre Meinung frei äußern, immer und überall, »das ist ein grundlegendes Menschenrecht«. Nein, Demonstrationen und politische Propaganda blieben bei den Spielen verboten, wie es die Olympische Charta vorschreibt. Wo Meinung aufhört und Propaganda anfängt, das erklärt Rogge nicht. »Jeder Fall wird einzeln begutachtet.«
Es wurde gefeilscht, nachgehakt und verhandelt im China World, bis diese Erklärung zustande kam. Es war ein Kampf um kleine, rhetorische Unterschiede. Rogge ist ein vorsichtiger Mann, er versucht, es allen recht zu machen. Seine Erklärung war der Versuch, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Es hat nicht funktioniert. Es konnte gar nicht funktionieren, denn das Dilemma des IOC ist es, ein Spielball fremder Interessen geworden zu sein. Jeder pocht auf sein Recht, der Gastgeber, die Sponsoren, Politiker, Sportler, Umweltschützer, Menschenrechtler.
Stoppt das IOC den Fackellauf, heißt es: Es will doch nur sein Image retten. Bricht es nicht ab, heißt es: Das Komitee duckt sich weg, es ist willfährig den Chinesen gegenüber. So ist es immer. Das IOC kann jetzt nur noch verlieren.
Im China World herrscht in den Sitzungspausen ein Stimmengewirr wie auf dem Flughafen. Der Chef des kubanischen Komitees, ein älterer, knochiger Herr, trägt seine Akkreditierung am Revers wie einen Orden. Er hat 1961 in der Schweinebucht gegen die Amerikaner gekämpft. Geiger und Cellisten der Pekinger Symphoniker spielen die Filmmusik von »Jenseits von Afrika«.
Jeder kennt jeden, IOC-Vizepräsident Thomas Bach zieht vorbei, Sergej Bubka, der Olympiasieger 1988 im Stabhochsprung, ist da und Hein Verbruggen, früher umstrittener Präsident des von Doping-Skandalen erschütterten Weltradsportverbands und heute einer der wichtigsten Funktionäre im IOC. Man schlägt sich auf die Schulter, umarmt sich, fotografiert sich gegenseitig. Zwischen baumdicken Säulen stehen Damen in braunen Kostümen, Filofax und iPhone in den Händen. Über die Rolltreppe gelangt man in eine Shopping- Mall, Gucci, Prada, Perlenketten, alles in der Nähe für die begleitenden Frauen.
Zur Eröffnungsfeier der Generalversammlung am vergangenen Montag hatte sich Pekings Bürgermeister angemeldet, der chinesische Sportminister, der Vorsitzende des Volkskongresses und der Sekretär der Kommunistischen Partei Pekings. Nur 25 chinesische Reporter dürfen in den Saal, die westlichen Journalisten beschweren sich vergebens. Als sich die Tür nach knapp einer Stunde dann auch für sie öffnet, sind die Politiker längst wieder weg. Der Bereich, in dem sich die Journalisten bewegen dürfen, scheint jeden Tag kleiner zu werden. Niemand weiß, wer diese Entscheidungen fällt, niemand kann sagen, warum.
Weil es auch eine normale Sitzungswoche sein soll, verleiht Rogge an diesem ersten Tag goldene Medaillen an verdienstvolle Mitglieder, dann verliest jemand die Namen der Verstorbenen. Alle stehen auf zur Schweigeminute.
Saaldiener verteilen in diesen Tagen ein Dossier nach dem anderen, kaum jemand sieht sie sich an. Redner werden mit dem Namen ihres Landes und einer Zahl aufgerufen, »Zambia 204«, »Bahamas 18«. Ein etwas fülliger Mann mit gestutztem Vollbart ergreift das Wort: »Jordanien 98« beschwert sich über das Auto, in dem die Staatsgäste im August durch Peking chauffiert werden sollen. Nur ein Audi A6. Wie bitte soll er das zu Hause seinem Ministerpräsidenten erklären? Togo hält die 15 Dollar für eine Frechheit, die der Internet-Zugang im Hotel jeden Tag kostet. Gibt es einen höheren Zuschuss für die Flugtickets? Wie kommen wir an Freikarten? Wie viele Gäste können wir zu den Spielen mitbringen? Der Mann aus Tschad meint: »Die Sportler sollen bei den Wettkämpfen starten und den Mund halten.«
Eine multilaterale Organisation kann immer nur so stark sein, wie ihre Mitglieder es wollen. Das IOC funktioniert nicht viel anders als die Uno. Die Einzigen, die in Peking ernsthaft über Menschenrechte und Meinungsfreiheit diskutiert haben, sind die Europäer.
Das Meeting der Europäer findet in Raum 9 AB statt. Man ist sich hier näher als in dem großen Saal, die Stimmung ist gespannt, die Luft riecht nach Aftershave. Thomas Bach schreibt eine SMS.
Patrick Hickey, ein weißhaariger Ire mit hoher Stirn, leitet die Sitzung. »Das IOC ist keine politische Organisation«, sagt er zu Beginn. »Es ist eine Sportorganisation.«
Sofort springt ein Funktionär des niederländischen Komitees aus dem Stuhl. »Wir bitten das IOC, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Tibet-Politik Chinas zu beeinflussen.« Er setzt sich wieder. Bach tippt immer noch in sein Handy.
Frankreich meldet sich: »Wenn der mediale Druck auf unsere Sportler wegen Tibet weiter wächst, müssen wir überlegen, sie zum Training ins Ausland zu schicken.«
Claudia Bokel steht auf, die Fechterin aus Tauberbischofsheim ist Sprecherin der europäischen Athleten. Zuerst entschuldigt sie sich, dass sie in Jeans und Pulli rumläuft, ihr Koffer ist noch nicht da. Dann sagt sie: »Die Sportler machen sich Sorgen um Tibet. Sie wollen bei den Spielen ihre Meinung sagen. Was sollen wir tun?« Ihre Stimme klingt etwas weinerlich.
Hickey blickt irritiert. Er wirft die beiden anwesenden Journalisten aus dem Saal: »Dies ist eine private Veranstaltung.« Was nicht stimmt. Nicht nur die Chinesen verstehen etwas von Zensur.
Jörg Schild, der Chef des Schweizer NOK, war auch bei dieser Sitzung. Er ist 62 Jahre alt, die Hosenbeine seines Anzugs flattern, er hat einen Schnauzer wie eine Schuhbürste. Früher hat er Handball gespielt, er war Staatsanwalt in Basel und 14 Jahre lang in der Politik. Kein anderer NOK-Chef hat sich so kritisch über das IOC geäußert wie Schild. Es gibt eine große tibetische Gemeinde in der Schweiz. Nach dem Aufstand in Tibet hat er gesagt, dass für ihn »der Rubikon überschritten« sei. Ende März schrieb er Rogge einen Brief. Schild sagt, das IOC hätte wissen müssen, was auf einen zukommt, als es China die Spiele gab. Eine Antwort hat er nie bekommen. Stattdessen rief ihn der Kabinettschef des IOC an. Er warf Schild vor, das Komitee zu attackieren.
»Ich schätze Rogge als Mensch«, sagt Schild draußen auf dem Flur. »Mein Brief war konstruktive Kritik, aber Kritikfähigkeit ist keine einfache Sache. Man kann Sport und Politik nicht trennen. Die Vergabe der Spiele nach Peking war doch immer eine politische Entscheidung. Mit den Winterspielen in Sotschi 2014 ist es das Gleiche.«
Ihn stört, dass sich die Athleten an die Olympische Charta halten müssen, obwohl gleichzeitig China bestimmte Forderungen der Charta nicht erfüllt. »Jetzt spricht man aus politischer Rücksichtnahme über Meinungsfreiheit der Athleten, aber nicht über Missstände in China.« Schild klopft mit dem Zeigefinger auf die Tischkante und sagt: »Dagegen wehre ich mich.«
Hat er mal überlegt, darüber in der Generalversammlung abstimmen zu lassen?
»Nein. Ich würde ja eh verlieren.«
Ist das Frust?
»Nein, das ist Realpolitik.«
Schilds Stimme zählt nicht viel. Das Wichtige geschieht nie im Plenum, sondern hinter verschlossenen Türen und vorgehaltener Hand.
Michael Vesper, der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, ist seit Dienstag in Peking. Er ist seit 2006 beim DOSB, 56 Jahre alt und ein rheinischer Lautsprecher, er hatte schon als Minister der Grünen in Nordrhein-Westfalen den Ruf, ein Realo zu sein. Thomas Bach hat ihn beim DOSB eingestellt. Bach ist schlau, wahrscheinlich ahnte er, dass die Sportpolitik keine Sportfunktionäre braucht, sondern Berufspolitiker, die wissen, wie es zugeht hinter verschlossenen Türen.
Am Dienstag trifft Vesper den chinesischen Sportminister Liu Peng zum Lunch. Es wurde auch über Menschenrechte gesprochen, sagt Vesper, und verliert sich in Andeutungen. Am Mittwoch lädt ihn der deutsche Botschafter zum Mittagessen ein. Der Wagen fährt am Rohbau des Staatsfernsehens vorbei, ein in sich gedrehtes Hochhaus, das auf zwei Türmen steht und oben in der Luft zusammenwächst. »Wieso fällt dieses Ding nicht um?«, fragt Vesper. Der Botschafter lässt sieben Gänge servieren, gedämpfte Jakobsmuscheln, Rindfleisch in schwarzer Pfeffersauce, Sesamlamm, dazu trockenen Riesling. Auch dieses Gespräch ist vertraulich.
Auf dem Rückweg liest Vesper den Pressespiegel, den man ihm aus Deutschland auf sein Blackberry-Handy geschickt hat: DOSB-Ehrenpräsident Manfred von Richthofen plädiert für einen Abbruch des Fackellaufs. Vesper lehnt den Kopf an die Scheibe. Manchmal wirkt er, als würde er seinen Job am liebsten hinschmeißen.
Draußen überschlagen sich die Ereignisse, im China World kündigt Rogge an, die IOC-Exekutive werde am Freitag über die »künftige Gestaltung« des Fackellaufs diskutieren. Auf der Suche nach der besten Schlagzeile laufen die Medien heiß. Associated Press schreibt, das IOC schließe einen Abbruch des Laufs nicht aus. Zeitungen auf der ganzen Welt werden die Falschmeldung drucken.
Die Chinesen aber üben bewusst Desinformation. Wenn CNN und BBC World im Satellitenfernsehen über den Fackellauf berichten, wird der Bildschirm schwarz. Nachdem in Paris die Fackel mehrmals gelöscht wurde, titelte »China Daily": »Paris empfängt die Flamme mit Leidenschaft.« Sprache ist geschmeidig.
Das IOC mag die Ahnungslosen, die Loyalen und die Verschwiegenen. Das hat es mit einer Diktatur gemeinsam. Das IOC mag Leute wie Mario Vázquez Raña. Der Mexikaner ist 75 Jahre alt, trägt eine getönte Schmetterlingsbrille und einen Errol-Flynn-Bart. Ihm gehört ein Zeitungsverlag, früher war er Sportschütze. Er ist Präsident der Vereinigung der Nationalen Olympischen Komitees.
Er sitzt in der Generalversammlung und liest den Entwurf einer Erklärung vor, die er selbst geschrieben hat. Er will sie der IOC-Exekutive vorlegen. Die Eckpunkte des Papiers lauten: kein Boykott, Einhaltung der Olympischen Charta, Appell für eine friedliche Lösung des Tibet-Konflikts. »Bitte klatschen Sie jetzt«, sagt Vázquez Raña, »dann können wir essen gehen.« Er interpretiert den verhaltenen Applaus als einstimmiges Votum.
Später stellt Vázquez Raña den Antrag, das Wort »Tibet« aus der Erklärung zu streichen. »Wir können doch nicht zu China sagen, wenn ihr das nicht macht, vertrauen wir euch nicht mehr.«
Er sucht im Saal nach den Delegierten des chinesischen Komitees. »Das ist doch eine faire und vernünftige Lösung, oder?«, fragt er in sein Mikrofon und hebt den Daumen. »Ja? Sagt ja!« Ein Delegierter tut ihm den Gefallen.
Sieben Tage lang geht es um Begriffe, um einzelne Wörter, um Definitionen und Auslegungen. Es gibt wahrscheinlich viele, die froh sind, wenn am 24. August diese verdammten Spiele einfach zu Ende sein werden, aber es gibt auch ein paar, die so tun, als wäre nichts geschehen.
Klaus Schormann ist ein Funktionär alter Schule. Der Präsident des Fünfkampf-Weltverbandes hat auf dem Campus der Beijing Sports University einen Ginkgo-Baum gepflanzt und danach eine Vorlesung gehalten. Er hat den Studenten zwar mit auf den Weg gegeben, sie müssten »lernen, tolerant zu leben«. Über Tibet, freie Presse, Menschenrechte aber sprach er nicht, »das gehört da nicht hin«. Am 6. August, zwei Tage vor Eröffnung der Spiele, wird er mit der Fackel auf den Straßen Pekings laufen: »Ich werde voller Freude sein.«
Er hat eine Visitenkarte mit Foto. Er sagt: »Ich muss meinen Erste-Klasse-Flug bei der Lufthansa nicht bezahlen, ist das nicht ganz wunderbar?« Schormann war mit 13 Kinderturnwart der TSG Uslar, er träumt davon, nächstes Jahr ins IOC gewählt zu werden. Er bestellt grünen Tee.
Könnte er verstehen, wenn ein deutscher Athlet bei den Spielen ein »Free Tibet«-Shirt anzieht?
»Er sollte sich nicht wundern. Wenn in Deutschland einer ein T-Shirt trägt, das unsere Rechte verletzt, wird der auch eingesperrt.«
Ist das gelbe Schweißband von Amnesty International Propaganda?
»Klar, das geht nicht. Wenn sich die Athleten nicht an die Regeln halten wollen, dann müssen sie zu Hause bleiben.«
Er hält das IOC für eine Wohltat. »Die Umweltverschmutzung in Peking hat schon nachgelassen«, sagt er. »Dank der Spiele.« Der Himmel draußen ist graubraun.
Wahrscheinlich ist ihm der Präsident bei seinem großen Auftritt am Donnerstag zu weit gegangen, als Rogge, fast schon beim Hinausgehen, sagte, dass dies alles »zweifellos eine Krise« sei. Rogge sagte übrigens auch, es sei eine moralische Verpflichtung, dass China sein Versprechen zur Verbesserung der Menschenrechte einlöst.
Die Chinesen antworten schnell: Das IOC solle bitte schön »belanglose politische Faktoren« von den Spielen fernhalten. Außerdem hoffe man, dass sich das IOC an die Charta halte, die politische Stellungnahmen an olympischen Stätten verbiete.
Am Freitag schließlich, auf der letzten Pressekonferenz, erklärt Rogge, dass die Fackel auf jeden Fall auch durch Tibet getragen werden soll und dass man sich nicht in Chinas Politik einmischen wolle. Rogge hatte am Donnerstag auch Chinas Ministerpräsidenten Wen Jiabao getroffen.
Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, so war das in Peking. Die Funktionäre des IOC haben die Kontrolle verloren, sie haben sie verloren, weil China nicht bereit ist, sie abzugeben. Das IOC hat sein Dilemma selbst verschuldet, als es 2001 die Spiele nach China vergab. Egal, was sie machen, alles ist falsch. Mal die Chinesen, mal die Europäer, einer schimpft immer. Es ist eine Lose-Lose-Situation.
Vesper guckt auf sein Blackberry, schon wieder 18 E-Mails. Anne Will und Maybrit Illner wollen ihn in ihrer Show haben. Vesper überfliegt seinen Terminkalender. Sein Pressesprecher schreibt, dass es ruhig ist im Büro. »Ist ja noch früh in Deutschland«, sagt Vesper.
Er lässt sich in einen Sessel fallen. Er ist müde. Vesper hat vor knapp 30 Jahren die Grünen mitgegründet, er sagt, »ich bin es meiner Geschichte schuldig, die Tibet-Frage nicht wegzudrücken«.
Die Grundlage für die Erklärungen in den letzten Tagen war der Beschluss des DOSB von Ostermontag. »Darauf bin ich ein wenig stolz. Sport findet im politischen Raum statt. Wenn die Spiele in Chicago wären, würde ich Guantanamo stärker in den Mittelpunkt rücken«, sagt er. »Der Sport kann die Probleme nicht lösen, damit wäre er überfordert.«
Draußen fängt es an zu regnen. Vesper findet es nicht in Ordnung, dass in der Erklärung der Generalversammlung nicht mehr das Wort »Tibet« vorkommt. Dass es in letzter Minute gestrichen wurde, sagt er, sei Trickserei und gewiss kein demokratischer Akt. »So etwas kenne ich nicht einmal von Parteitagen«, sagt er. »Im Umgang mit China ist höchste Sensibilität geboten. In beharrlichen internen Gesprächen erreicht man oft mehr, als wenn man sie vor den Kopf stößt.«
Kaum sind die Tage des IOC in Peking zu Ende, machen am Freitag die Menschen in Buenos Aires, weit weg von China und von Europa, aus dem Fackellauf ein Volksfest.
Samstagmorgen ist Vesper zurück nach Deutschland geflogen. Am Sonntag will er Gast bei Anne Will sein. Er wird am 1. August zurück nach China kommen, um an den Spielen als Offizieller teilzunehmen. Vesper war nie Leistungssportler, bis vor kurzem muss er sich als Berufspolitiker im Sport wie ein Außenseiter vorgekommen sein. Die Zeiten sind vorbei. MAIK GROSSEKATHÖFER