OLYMPIA »Der Kugel knapp entkommen«
Ein neuer Geist schien letzte Woche in die Olympische Familie eingekehrt. Als sich die Herrschaften mit den fünf Ringen am Revers in den Sitzungspausen ihres Anti-Doping-Kampfes via Rolltreppe ins Restaurant »Paris« zu Shrimps mit Palmenherzen und Hühnchen »Thai Style« verfügten, kam ihnen zwar die Versuchung in die Quere: Die sechs Kandidaten für die Winterspiele 2006 präsentierten auf Werbeständen frech die Vorzüge ihrer Heimat.
Aber diesmal mieden die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ebenso weiträumig wie demonstrativ die Gabentische. Keines Blickes würdigten sie die Schlüsselanhänger aus Klagenfurt; vergebens bot der Emissär aus Turin seine Pralinen feil, nicht mal an die zuckerfreien Lutschbonbons aus Sion wagte sich jemand heran.
Für den ehrwürdigen Ständezirkel, der bis vor kurzem noch für Aufmerksamkeiten aller Art empfänglich war, ist 2006 unendlich fern. Es geht nicht um Klagenfurt, Turin oder Sion, es geht ums eigene Überleben. Da geriet selbst der Anlaß, der die Wahlmänner nach Lausanne geführt hatte, die Anti-Doping-Konferenz, in den Hintergrund.
Am Genfer See beschäftigten sich die meisten IOC-Fürsten nicht mit Medikamentenmißbrauch im Sport, sondern mit sich selbst. Es galt, Besitzstand zu wahren, Macht auszubauen oder Rivalen auszustechen. Denn mit jedem der drei Debattentage wurde klarer: Dem IOC steht ein umfangreiches Revirement bevor. Während auf dem Podium die Delegierten tapfer für einen sauberen Sport warben, wütete hinter den Kulissen eine Schlammschlacht, die mit sibyllinischen Reden, verlogenen Gesten und anonymen Dossiers geführt wurde.
Die Ära Samaranch geht zu Ende. Und kaum einer glaubt, daß sich der Marques aus Katalonien bis zum regulären Ende seiner Präsidentschaft 2001 im Amt hält. »Nicht mal die einfache Mehrheit«, hat Deutschlands Olympiakomitee-Chef Walther Tröger ermittelt, erhalte der einstige Franco-Anhänger, wenn er auf der außerordentlichen Vollversammlung Mitte März die Vertrauensfrage stelle.
Ziemlich fahrlässig hatte Samaranch, 78, an seine Gefolgschaft die Bitte gerichtet, sich bei der Städtekür zu entmachten. Testabstimmungen ergaben, daß die nötige Zweidrittelmehrheit unter den IOC-Mitgliedern unerreichbar sein dürfte.
Zur ersten Protestveranstaltung gegen Samaranchs Plan, die künftigen Olympiastädte von einer 15köpfigen Kommission bestimmen zu lassen, in der nur noch 8 IOC-Gesandte sitzen, kam es vergangenen Mittwoch. Der Ungar Pal Schmitt versammelte rund 50 empörte Parteigänger zum Frühstück in Lausannes Palace-Hotel.
Von stetig neuen Hiobsbotschaften gepeinigt, offenbarte der ehedem so standfeste Samaranch Konditionsprobleme. »Kommen wir zu den Reden«, befahl er am Schlußtag des »Gift-Gipfels« ("Blick«, Zürich) und begehrte mit bangem Gesicht von seinem Generaldirektor François Carrard zu erfahren: »Wie viele sind es denn?«
Das Marathon an Krisensitzungen hat den Mann aus Barcelona dünnhäutig gemacht. Pikiert hüstelnd kurvte er das Schild mit seinem amtlichen Kennzeichen ("President") wie ein Spielzeugauto über den Tisch, als auch nach zweimaligem Schlag mit dem Hämmerchen das Auditorium keine Ruhe gab. Dem deutschen Leichtathletik-Präsidenten Helmut Digel kommt Samaranch, weil vor dem Ende der Amtsperiode »die Macht schon neu verteilt wird«, ziemlich einsam vor: »Das IOC läßt ihn im Regen stehen.« Das »Wall Street Journal« wittert den »melancholischen Hauch vom Ende eines Empire«, weniger schmerzbewegt intonierten in Lausanne die Sportminister der EU den Abgesang auf »eine Art konstitutionelle Monarchie«, wie Olympia-Neuling Otto Schily zornig textete.
Eine weitere empfindliche Erniedrigung kassierte Baron de Coubertins selbsternannter Nachlaßverwalter vorige Woche von seinem Vize Richard »Dick« Pound. Wie durch ein Naturgesetz bestimmt, hatte Samaranch für sich den Vorsitz der neu zu gründenden Anti-Doping-Agentur reserviert. Doch kaum hatten europäische Sportminister ihr Veto eingelegt, ließ auch Marketingchef Pound, Herr über die 25 Millionen Dollar Anschubfinanzierung, den Konvent wissen, er könne sich einen ausgewiesenen Experten für Ethik und Medizin vorstellen - indirekt äußerte der Anglokanadier damit, daß sein Vorgesetzter auf dieser Position verzichtbar sei.
Samaranch war so konsterniert, daß seine Nackenmuskeln wieder aufgeregt zuckten. Der verflixte Tremor sah ausgerechnet in jenen Sekunden wie nicht enden wollendes Kopfschütteln aus. Hilflos wie Erich Honecker in seinen letzten Regierungstagen, mußte der kleine Spanier zusehen, wie Wirtschaftsmann Pound mittlerweile an allen Strippen zieht.
Dem Patriarchen ist in der Stunde der Not offenbar das Gefühl für den rechten Winkelzug verlorengegangen. Indem Samaranch den Anwalt aus Montreal zum Chef des Untersuchungsausschusses machte, der die Bestechlichkeit von IOC-Granden aufklären sollte, kürte er ungewollt seinen eigenen Nachfolger. Denn gegen Kim Un Yong, Samaranchs Wunschkandidaten als Thronfolger und vormals hochrangigen Leibgardisten des südkoreanischen Militärdiktators Park Chung Hee, wird in der Affäre um Salt Lake City ermittelt. Und weil die anderen potentiellen Kandidaten entweder zu wenig machtbesessen sind oder Samaranch zu nahe stehen, gilt Pound, 56, als Gewinner der Krise und konkurrenzloser Kandidat auf den Vorsitz.
Der ehemalige Schwimmer, 1960 in Rom über 100 Meter Freistil Olympia-Sechster, gibt gern den routinierten Conférencier, der sein Kinn auf die Faust stützt und seine Rede gelegentlich zur Reinigung der Atemwege unterbricht - das bewerkstelligt er schnell, indem er die Nase hochzieht. ,,Oh boy«, so beginnt er in unaufgeregtem Plauderton seine Sätze, und Französisch spricht er mit gerolltem »r«.
Pound, seit 1978 im IOC, hatte schon vor Jahren moniert, die Spiele würden vorzugsweise an Städte vergeben, die den Gattinnen der IOC-Herren die aufregendsten Shopping-Touren versprächen. Er selbst kam nur einmal ernsthaft ins Gerede, als bekannt wurde, daß er im IOC-Auftrag mit der Adidas-Satellitenfirma ISL die Vermarktungsverträge aushandelte, gleichzeitig über seine Tätigkeit in der Kanzlei Stikeman & Elliott aber mit dem Herzogenauracher Schuhfabrikanten geschäftlich verbandelt war. Er sei nicht an den Erlösen der Sozietät durch die Adidas-Vertretung beteiligt, lautete seine Erklärung.
Der Chef der Marketingkommission hat sich als smarter Moneymaker um den Geschäftsgang zugunsten der olympischen Kontobewegung verdient gemacht - und unentbehrlich. Dem Fernsehsender NBC rang Pound 3,5 Milliarden Dollar für die Rechte an den Spielen der Jahre 2000 bis 2008 ab - assistiert von seinem israelischen IOC-Kollegen Alex Gilady, praktischerweise Lobbyist in der Sportabteilung des amerikanischen Senders.
Von Gewissensbissen scheint »Tricky Dick« nur dezent geplagt. In seinem Untersuchungsbericht zur Korruption desavouierte er auch Samaranch. Er notierte, daß sich das Bewerbungskomitee aus Utah bereits 1991 beim IOC-Chef über die Unverfrorenheit von Agenten schriftlich beschwert hatte, die zum Stimmenshopping einluden. Damit war der Präsident als Mitwisser bloßgestellt.
Für einen, der zugibt, ,,der Kugel« des Katalanen schon einmal ,,nur knapp entkommen« zu sein, gibt sich Pound aufreizend selbstsicher. 1995 dräute seiner olympischen Karriere beinahe das Ende: Der Nordamerikaner erhob Einspruch gegen die »Lex Samaranch«, die eine Verlängerung der Amtszeit ermöglichen sollte. Tags darauf stimmten die Mitglieder aber doch noch für den Dreh, das olympische Verfallsdatum von 75 auf 80 Lebensjahre heraufzusetzen.
Letztmalig bei den Sommerspielen in Atlanta drohte Pounds Laufbahn ein Knick - durch einen Fehltritt seiner Frau. Julie Pound hieb in Anwesenheit des Gatten ihr Knie in den Unterleib von Officer Leanne Browning - die Polizistin hatte die Fußgängerin unvorsichtigerweise, aber regelkonform von der gesperrten Straße auf den Bürgersteig gebeten. Der Festnahme wegen ,,Trunkenheit« und ,,tätlichen Angriffs« in Tateinheit mit der Erwähnung von ,,Obszönitäten« folgte eine Geldstrafe von 2000 Dollar.
Olympias Geldeintreiber, der Sitzungen gern vor seinem aufgeklappten Laptop verfolgt, haben die Skandälchen nicht geschadet. Auch die jüngsten Anwürfe scheint er locker zu überstehen. Zu den verschiedenen anonymen Schreiben, die in den letzten Wochen in Zeitungsredaktionen wie dem »Wall Street Journal« eintrafen und in denen sich IOC-Mitglieder gegenseitig bezichtigen, Geschäfte auf Kosten der Olympischen Idee getätigt oder Geishas zur seelischen Entspannung genommen zu haben, gesellte sich ein weiteres: Insider ordnen die Urheberschaft dem ehemaligen Geheimdienstmann Kim zu.
Das Flugblatt ("Von Unbekannt an IOC-Mitglieder") berichtet über drei angebliche Liebschaften Dick Pounds. Die Namen der Damen wurden gleich mitgeliefert: Carol Anne Letheren vom kanadischen NOK; Judy Osborne vom TV-Sender CBC; Danielle de la Mer, ehemals im IOC-Marketingstab. Außerdem heißt es im Pamphlet, Pounds Sohn habe für den Olympia-Sender NBC gearbeitet - ein Vorwurf, der bereits plausibel entkräftet worden ist.
Selbst der angeschlagene Samaranch wurde letzte Woche noch mal zum Mittelpunkt gezielter Indiskretionen. Kaum hatte das IOC-Chefbüro in einem Anflug von Glasnost verbreitet, der Herr der Ringe residiere zum Spottpreis von 300 Schweizer Franken pro Nacht in einer kleinen Suite des Palace-Hotels, meldete »Le Matin« von Recherchen der städtischen Finanzbehörde. Dem Fiskus habe Seine Exzellenz einen anderen Wohnsitz angegeben: das Anwaltsbüro des IOC-Generaldirektors - »Maître François Carrard, rue de la Grotte«.
Derartige Veröffentlichungen hält das deutsche IOC-Mitglied Thomas Bach natürlich für absolut überflüssig. Der Fechter, ewig Florett, fintiert immer noch gegen Samaranchs Kritiker. Daß Innenminister Schily am Eröffnungstag den IOC-Boß zum Abtreten aufforderte, weckte bei Bach Beschützerinstinkte.
Bei Schilys Statement vor den Fernsehkameras wollte der Tauberbischofsheimer Anwalt unbedingt dabeisein, um Schlimmstes zu verhindern. Hektisch ließ er seine Adjutanten nach dem Politiker suchen. Die Späher wurden auf der Herrentoilette fündig. Bach wartete nicht mal die Verrichtung ab, er hastete gleichfalls in die Naßzelle - und wich Schily fortan nicht mehr von der Seite. Vergebens versuchte Bach ihm einzureden, daß man »nicht weit auseinander« sei. Bis zur Selbstaufgabe verteidigte er die Linie seines Herrn.
Aber am Ende war es doch wieder Allroundmann Pound, der dem IOC aus der Klemme half. Als die Olympier unter dem Druck der Politik erkennen mußten, daß ihnen die Leitung der Doping-Agentur niemand zutraut, verkaufte der Kanadier die dramatische Fehleinschätzung flugs als Akt neuer IOC-Perestroika. Man sei halt »überrascht« gewesen vom regen Interesse der öffentlichen Hand - und mithin gern bereit, die Besetzung der Doping-Agentur einem zu gründenden Aufsichtsrat zu überlassen.
Und Samaranch durfte sich, endlich ein Erfolgserlebnis, über »breite Zustimmung« zur Doping-Deklaration freuen. Die wurde freilich nach alter IOC-Sitte ermittelt. »Einverstanden?« fragte kurz der Patron - und schloß vom ausbleibenden Pfeifkonzert auf ein einstimmiges Votum. JÖRG KRAMER