Der Tanz um Franz
Zwei Tage nach der 0:1-Niederlage gegen Brasilien schloß der Deutsche Fußball-Bund (DFB) eine lange Leitung kurz: von Frankfurt nach Pasadena in Kalifornien. Am deutschen Apparat war Bundestrainer Helmut Schön für »Mister Franz Beckenbauer« von Cosmos New York.
»Sind Sie Journalist?« quäkte die Telephonistin vorsichtshalber. »Nein«, antwortete der Bundestrainer. »Sagen Sie nur meinen Namen, dann weiß Mister Beckenbauer schon Bescheid.«
»Grüß Gott, Herr Schön«, erklang endlich altvertrauter Münchner Ton fern der Heimat. Der Bundestrainer forschte sofort nach Terminen.« Wir können zur Weltmeisterschaft nur einen Beckenbauer gebrauchen, der ab 1. Mai bis Ende des Turniers am 25. Juni zur Verfügung steht.« Kurze Pause. »Jo moi, dös wird Cosmos net mögen«, stotterte Kaiser Franz. »Aber fragen S' doch mal die Herren selber.« Schön verlangte die Namen der kompetenten Cosmos-Herren, »das Entscheidungsgremium«. Beckenbauer wußte sie nicht und riet zu einem Telephongespräch, besser noch zu einem Flug nach New York. »Telegramme, Fernschreiben und so was lesen die net gern.«
Schön: »Wir müssen erst genau wissen, was los ist.« Genau wußte Beckenbauer überhaupt nichts. Bis auf eins: Der Tanz um Kaiser Franz dient seinen Werbe-Aktivitäten im Deutschen Fernsehen. So bleut er deutschen Fußballfans ein, auf welchem Gerät von Nordmende die WM-Spiele am besten zu sehen sein werden.
Kaiser Franz, Welt- und Europameister, Deutscher Meister, US-Meister, Weltpokal- und Europacupsieger. spielt seinen Fans das herzzerreißende Lied vom verlorenen Fußballsohn vor, der bei der WM so gern für Deutschland dabeisein möchte.
Die bundesdeutsche Boulevardpresse vermarktete die Sehnsucht der Fußball-Deutschen nach Beckenbauer nicht minder. »Bild« richtete Tag um Tag ein Wechselbad der Hoffnungen und Enttäuschungen an.
Am Samstag vorletzter Woche meldete Beckenbauer den »Bild«-Lesern: »Ich komme.« Sonntags hieß es: »Aus. Der DFB will Beckenbauer nicht haben.« Am Montag: »Die Wende. Der DFB will Beckenbauer haben.« Dienstags wollten »die Deutschen Beckenbauer« heimholen. Am Mittwoch letzter Woche sammelte nur noch »ein Fan für Beckenbauer« Geld, damit der DFB Ausfallvergütung an Cosmos New York für den Star zahlen könne.
DFB-Präsident Hermann Neuberger auf einer Tagung in Trier: »Die 'Bild'-Zeitung hat mir schon ein Ticket nach New York gebucht, aber ich habe keine Zeit, ich kann höchstens meinen Hut 'rüberschicken.«
Die andere Seite, der US-Klub Cosmos New York, verhinderte endgültig den Einflug des deutschen Fußballpräsidenten. »Wir betrachten die Angelegenheit als erledigt«, erklärte Generalmanager Krikor Yepremian. »Die Deutschen haben Zeit genug gehabt, sich zu kümmern, aber mit uns hat noch keiner direkt gesprochen.«
Tatsächlich sind die deutschen Fußball-Oberen an Beckenbauers WM-Teilnahme genausowenig interessiert wie US-Präsident Carter an der Neutronenbombe. Unverdrossen sortiert Bundestrainer Helmut Schön seine Spieler für die nächste, seine vierte und letzte WM. Bis zum letzten Sonntag mußte er 40 Spieler nominieren, unter denen dann Ende Mai jene 22 Kicker auserwählt werden, die nach Argentinien reisen. Dazu scheint Beckenbauer nicht zu gehören. Schön: »Der Franz weiß doch selber ganz genau, daß das nicht geht.«
Schön nennt den Fall Beckenbauer »die größte Enttäuschung meines Lebens«. Bei allen drei Weltmeisterschaften, die Schön als Bundestrainer erlebte, war Beckenbauer dabeigewesen. 1966 wurden sie in England Vizeweltmeister, 1970 in Mexiko Dritter und 1974 auf eigenem Boden Weltmeister.
Nach dem Titelgewinn versprachen sich Helmut Schön und Franz Beckenbauer, 1978 den Titel zu verteidigen. »Dann aber brach der Franz ja zu seinen neuen Dollar-Ufern auf, ich konnte mich von ihm noch nicht einmal richtig verabschieden, so eilig hatte er es gehabt.«
Auch DFB-Präsident Neuberger tat gekränkt, denn er hatte Beckenbauer zugesagt, ihn später einmal zum Bundestrainer zu ernennen. »Er hat sich aber für die Operettenliga in den US entschieden«, rügte der oberste deutsche Fußballfunktionar.
Jedenfalls wies Neuberger nach dem Auszug von Kaiser Franz nach Amerika den Bundestrainer an, künftig ohne Beckenbauer zu planen. Schön ("Ich bin Angestellter des DFB") gehorchte und blieb in den ersten zwölf Länderspielen ohne Beckenbauer unbesiegt. »Wir haben ja mit Beckenbauer auch nicht die Europameisterschaft verteidigen können, wer garantiert denn, daß wir mit ihm eher Weltmeister bleiben als ohne ihn?«
Doch Länderspiele gegen Wales (1:1), England (2:1) und UdSSR (1:0) drohten sogar auf deutschem Boden verlorenzugehen. Als dann gegen Brasilien das Glück ausblieb und im 13. Länderspiel nach Beckenbauer die erste Niederlage hingenommen werden mußte, lachte die Fußballwelt, und das deutsche Fußballvolk murrte.
»Die besteht doch vorwiegend aus Gulasch«, witzelte Österreichs WM-Direktor Max Merkel über die deutsche Nationalmannschaft. »Einen Beckenbauer zu haben und ohne ihn zu spielen ist verrückt«, urteilt der in Zürich ansässige deutsche Fußballtrainer Helmut Johannsen. Sogar Bundesverteidigungsminister Hans Apel appellierte an den DFB, Beckenbauer einzusetzen.
»Bild« ließ das Wickert-Institut unter deutschen Fußballfans eine Umfrage anstellen. 58 Prozent aller Befragten wünschten eine Mannschaft mit Beckenbauer. Bundestrainer Helmut Schön hält dagegen: »Ich bekomme auch viel Post; die meisten fordern, wir sollten weiter ohne Beckenbauer spielen.« In der Mannschaft wollen nur Spielführer Berti Vogts und Elfmeterschütze Rainer Bonhof wieder mit Beckenbauer kicken.
Statt dessen versuchte Schön einen anderen abgetretenen Weltmeister zu überreden, wieder mitzuspielen: Jürgen
* Bei der weltmeisterschaft 1974 im deutschen Mannschafts-Quartier.
Grabowski von Eintracht Frankfurt. Doch Grabowski sagte ab: »Wenn Franz Beckenbauer nicht spielt, mache ich auch nicht mit, nur mit dem Franz haben wir eine Chance.«
Ob mit oder ohne Kaiser Franz, für die Weltmeisterschaft 1978 gibt es keinen erklärten Favoriten, wie es früher die Brasilianer gewesen waren, die dann auch dreimal den Titel holten, und wie 1974 die deutschen Schön-Spieler. Von den 16 Mannschaften, die jetzt in Argentinien auftreten werden, haben acht, einschließlich der Deutschen, nahezu gleich gute Chancen, Weltmeister zu werden.
Bundestrainer Schön setzt auf seinen Zeitplan. »Unsere Spieler sind ab Mai von allen Verpflichtungen frei, Deutsche Meisterschaft und Europacup gibt es dann nicht mehr.« In geschlossenen Trainingslagern will Schön seine 22 längst auserwählten Spieler »pflegen und aufpäppeln« und mit ihnen »üben, üben, üben«. Während viele WM-Teilnehmer noch acht Tage vor dem ersten WM-Spiel in Argentinien Länderkämpfe bestreiten, trimmen sich die »deutschen Bullen«, so Merkel, in ländlicher Abgeschiedenheit.
Diese Woche in Stockholm plant der Bundestrainer den Einsatz einer Geheimwaffe, damit wieder mehr Tore fallen. »Neben Mittelstürmer Klaus Fischer spielt der Münchner Karl-Heinz Rummenigge als zweite Sturmspitze in der Mitte.« Im Mittelfeld soll der bislang überforderte Kölner Spielmacher Heinz Flohe durch den Stuttgarter Hans Müller entlastet werden. Schön: »Beide können wunderbar über den unbesetzten Linksaußenposten angreifen.«
Rechts hält Schön an dem »Flankengott« Rüdiger Abramczik von Schalke 04 fest, obschon dessen Klubtrainer ihn gar nicht mehr in der Bundesliga aufstellen möchte.« Gegen Brasilien stürmte er 30 Minuten gut, dann ließ er sich durch Fouls den Schneid abjagen«, resümiert Schön.
Schwedens Trainer Georg Ericson tippt nach wie vor, daß die Deutschen wieder Weltmeister werden. »Sie sind zur rechten Zeit immer die beste Turniermannschaft; im Lager wachsen ihnen Flügel.« Der Wiener Max Merkel sieht nur eine deutsche WM-Chance: »Weltmeister wird der Glücklichste, und das ist bisher immer Helmut Schön gewesen.«
Tatsächlich bugsierte das Los die Bundesequipe in die leichteste der vier WM-Vorrundengruppen mit Polen, Mexiko und Tunesien. Merkel: »Das Glück ist wie ein Vogel, wo es einmal hingeschissen hat, macht es immer wieder hin.«