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Leichtathletik-WM DER VERDACHT IM STADION

Vom kommenden Wochenende an messen sich die weltbesten Läufer, Werfer und Springer in Stuttgart. Doch das pompöse Fest ist gezeichnet von einer tiefen Vertrauenskrise der internationalen Leichtathletik: Gegenseitig verdächtigen sich die Sportler des Dopings. Viele haben Angst vor Sabotage durch die Konkurrenten.
aus DER SPIEGEL 32/1993

Das Mißtrauen verbreitet sich in den Köpfen wie ein aggressives Virus. Als Christian Schenk, 28, bei den deutschen Zehnkampf-Meisterschaften erschöpft das Ziel des 1500-Meter-Laufes erreichte, streckte der Olympiasieger kämpferisch die Faust in die Höhe und prustete: »Jetzt zeigen wir es auch den Dopingbolzern.«

Nachdem Melanie Paschke, 23, deutsche Sprintmeisterin geworden war, konzentrierte sich das Interesse auf ihr Verhältnis zu Katrin Krabbe. Mit ihrer gesperrten Vorgängerin, sagte die Braunschweigerin schnippisch, wolle sie »in keiner Weise verglichen« werden. Der ehemalige Laufstar aus Neubrandenburg solle erst einmal ohne Doping so schnell laufen wie sie.

Beim Abendsportfest am vergangenen Mittwoch in Zürich fiel der Weitspringer Mike Powell, 29, durch übertriebene Sorgfalt im Umgang mit seiner _(* Am 30. Juli in Gateshead, England. ) Sporttasche auf. Er sei »unglaublich vorsichtig«, bestätigte der Weltrekordler. Weil er Sabotage fürchtet, trinkt er nur seine eigens mitgebrachten Säfte.

Kein Wettkampf in der Leichtathletik endet ohne Verdächtigungen, Anschuldigungen oder Rechtfertigungen. Die spektakulären Manipulationen von Topathleten wie Ben Johnson oder Katrin Krabbe haben dem Image schweren Schaden zugefügt. Der Argwohn der Sportler und Trainer untereinander zerfrißt jetzt das Innenleben.

Wenn am kommenden Freitag in Stuttgart die Weltmeisterschaften beginnen, steckt die Leichtathletik in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise. Kein Athlet traut dem anderen über den Weg, offen werden abnormes Muskelwachstum und andere Dopingsymptome bei Konkurrenten angeprangert.

Dopingverdächtigungen dienen längst als Waffe im Psychokrieg auf der Tartanbahn. Wenn man einen Gegner schwächen wollte, habe man ihm früher die Freundin ausgespannt, berichtet die ehemalige Weitspringerin Heidi Schüller, »heute bezichtigt man ihn einfach des Dopens«. Auch wenn »du nur verdächtigt wirst«, sagt Powell, »bist du eigentlich schon schuldig«.

Wer in Stuttgart dabei ist, sieht sich einer gnadenlosen Fleischbeschau ausgesetzt. Haben sich die Muskelberge von Sprinter Linford Christie seit seinem Olympiasieg verändert? Wie behaart oder verpickelt sind die russischen Athletinnen? »Ich gucke mir die Leute an und mache mir meine Gedanken«, sagt die Hochspringerin Heike Henkel.

Weniger bekannte Sportler haben den Respekt vor dem Establishment verloren. »Warum trägt Carl Lewis in seiner Freizeit Zahnspangen?« fragt die Wattenscheider Marathonläuferin Claudia Metzner und liefert die Antwort mit: Jeder wisse doch, daß durch die Einnahme von Wachstumshormonen der Kiefer überproportional größer werde.

Weil Sportmediziner wie der Düsseldorfer Professor Friedhelm Beuker vorschlagen, Dopingtäter anhand ihrer sichtbaren Körpermerkmale wie Quellmuskulatur, Akne oder Vermännlichung bei Frauen zu identifizieren, fühlen sich immer mehr Athleten dem Verruf ausgeliefert. Jeder müsse sich jetzt rechtfertigen, klagt Hammerwerfer Heinz Weis: »Statt der Unschulds- gilt bei uns die Schuldvermutung.«

Das Mißtrauen trifft jeden: Wer unerwartet gewinnt, gerät ebenso in Dopingverdacht wie derjenige, dessen Leistung plötzlich abfällt. Und wer gar nicht erst antritt, klarer Fall, drückt sich vor den Kontrollen. Als Olympiasieger Dieter Baumann wegen einer Fußverletzung alle Wettkämpfe im Sommer absagte, streuten Kollegen die Meldung, der Schwabe wolle sich doch nur in Ruhe für die WM hochdopen.

Ein Ausweg aus der Verleumdungsspirale ist nicht in Sicht. Mit der Verlängerung der Sperre für Dopingsünder auf vier Jahre glaubten die Funktionäre genügend Abschreckung für den Drogenkonsum geschaffen zu haben.

Sie irrten: Seit der WM in Tokio registrierte der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) 123 positive Befunde. In sechs Disziplinen werden Athletinnen in Stuttgart ihre Titel nicht verteidigen können. Sie sind wegen Dopings gesperrt. Auch die Dritte Welt, vor zwei Jahren noch als Hort der Hoffnung gefeiert, ist inzwischen des Dopings kundig (siehe Grafik Seite 130).

Mit jeder Lüge und Denunziation wird die Stimmung frostiger. Als vor drei Wochen der Österreicher Andreas Berger in Verdacht geriet, griff er den Sauerländer Dopingfahnder Klaus Wengoborski an, der ihn und drei Kollegen im Auftrag des IAAF kontrolliert hatte. Der Sprinter wollte »eine ganz gezielte Aktion« der Deutschen erkennen.

Österreichische Zeitungen geißelten »die Lobby der Ratten«, sahen hinter der Urinkontrolle einen »Rachefeldzug mit Mafiamethoden«. Wenige Tage später mußte Berger die Einnahme von Anabolika eingestehen. Auch in Deutschland werden die Umgangsformen rabiater. Einen Tag vor WM-Beginn muß sich die Weitspringerin Heike Drechsler vor dem Landgericht Heidelberg verantworten. Ein geladener Zeuge aus der Schweiz sagte sein Erscheinen kurzfristig ab, nachdem ihn »Drechsler-Leute eindringlich« bearbeitet hatten.

Die gegenseitigen Anwürfe werden oft mit originellen Argumenten begründet. Weil in den vergangenen Monaten reihenweise Athleten im Diskuswerfen und Kugelstoßen erwischt wurden, gelten die Wurfdisziplinen weiter als verseucht. Jeder einzelne Fall, beschwert sich Weis, diene nun den populären Lauf- und Sprungdisziplinen als Mittel, »um die weniger attraktiven noch weiter an den Rand zu drücken«.

Auch die internationalen Ressentiments bestehen fort. Den Bulgaren wird generell mißtraut, besonders seit deren nationale Anti-Doping-Kommission resigniert zurückgetreten ist. »Von China und Kuba kann man behaupten, daß dort weiter zügellos gedopt wird«, sagt Klaus Wolfermann, Speerwurf-Olympiasieger von 1972.

In Rußland wird nicht nur mit Anabolika, sondern auch mit Wachstumshormonen gedealt, die aus Leichen gewonnen werden. Die Amerikaner gelten als geschickte Manipulateure; in Florida können Athleten in privaten Labors ihren Urin auf Dopingrückstände überprüfen lassen.

Es bleibt die Angst der Athleten, die sich wie Heike Henkel öffentlich für noch strengere Kontrollen aussprechen, vor der Rache der Konkurrenz. »Bei Wettkämpfen passe ich höllisch auf«, sagt die Olympiasiegerin: »Meine Trinkflasche lasse ich nie aus den Augen.« Y

[Grafiktext]

_130b Offizielle Dopingfälle i. Internat. Leichtathletik-Verband seit

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[GrafiktextEnde]

* Am 30. Juli in Gateshead, England.

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