Die Macht der blauen Pillen
Eigentlich ist Andreas mit seinem Körper jetzt ganz zufrieden. Schwarze, »wenn auch sehr zarte Bartstoppeln« schmücken Kinn und Oberlippe. Die Schulterpartien sind kräftig, selbst der Oberkörper ist passabel. Als Beweis kramt der Berliner ein »richtig starkes« Urlaubsfoto hervor, das ihn ohne T-Shirt zeigt. Unter den Brustwarzen sind leicht gerötete, zehn Zentimeter lange Narben zu sehen.
Nur »hier drunter«, sagt Andreas und zieht mit seiner Hand einen Strich in Höhe des Bauchnabels, sehe er aus wie früher.
Über 30 Jahre lang war Andreas eine Frau, sie hieß Heidi Krieger und war anfangs stolz auf ihre stattliche Statur. Mit ihren mächtigen Muskeln konnte sie Freunden und Verwandten imponieren; als Leichtathletin stieß Heidi die Kugel weiter als jede andere in ihrem Alter. Bei den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart gewann sie gar die Goldmedaille.
Doch lange vor den Erfolgen waren schon die Pillen gekommen. Wie jede bessere Kugelstoßerin der DDR wurde Heidi Krieger mit Anabolika vollgestopft - nur daß sie die Staatsdoper vom SC Dynamo Berlin viel früher in die Hände bekamen und weitaus mehr männliche Sexualhormone in sie hineinpumpten als in den meisten anderen Sportclubs.
Als Heidi Krieger nach fast zehn Jahren Hormondoping ihre Sportkarriere beendete, war sie weder Mann noch Frau. Sie fühlte sich als Mann und haßte ihren weiblichen Körper dermaßen, daß sie »am liebsten mit dem Auto gegen einen Baum gefahren wäre«.
Fünf Jahre lang quälte sich Heidi Krieger in diesem geschlechtsneutralen Zustand. Warum mußte ausgerechnet sie »eine Gör sein« und durfte nicht - so wie ihre drei Brüder - ein normales Leben führen? Warum mußte sie sich ständig verteidigen, weil sie partout keine Röcke tragen wollte?
Mehr als andere Transsexuelle beschäftigte sich Heidi Krieger mit der Frage nach den Ursachen. Trug wirklich nur sie selbst Verantwortung für ihren Seelennotstand? War es das burschikose Leben im Sportclub? Oder waren es etwa die blauen Pillen, von denen sie erst sehr viel später erfahren sollte, daß es Muskelmacher mit virilisierender Wirkung waren?
Als sie gerade 17 Jahre alt war, hatte sich der Experte vom DDR-Fachblatt »Der Leichtathlet« noch zufrieden geäußert. Heidi Krieger hatte die Kugel 16,82 Meter weit gestoßen. Trotz ihrer Größe, notierte der Kritiker, »erscheint sie uns als angenehm proportioniertes Mädchen«.
Den Medaillenplanern der DDR war das Mädchen aus Berlin-Niederschönhausen früh aufgefallen: Die kräftige Heidi traf beim Völkerballspiel mit dem rechten Arm derart scharf, daß ihr der Sportlehrer aus Angst um die Mitschüler befahl, mit links zu werfen. Gerade mal 13 Jahre alt, empfand sie es als »wahnsinnige Auszeichnung«, in die Wurfklasse der Kinder- und Jugendsportschule »Werner Seelenbinder«, der Schmiede des Dynamo-Nachwuchses, aufgenommen zu werden. Alle ihre Kumpel waren nun Sportler und die Betreuer eine Art Ersatzeltern.
Und so kamen der 16jährigen Teenagerin auch keinerlei argwöhnische Gedanken, als ihr Trainer - es war in der 15. Woche des Jahres 1982 - sie geheimnisvoll zur Seite nahm. Er habe hier ein »unterstützendes Mittel«, erklärte der väterliche Willi Kühl, »mit dem kannst du mehr trainieren« - und genau darauf kam es dem ehrgeizigen Mädchen an. Bereitwillig steckte es die blauen Tabletten ein, die sorgfältig in Silberpapier eingewickelt waren, um sie zu den befohlenen Zeiten zu schlucken. Weder Trainer noch Ärzte klärten sie jemals über deren Wirkungen auf.
Heidi Krieger konnte nun noch härter trainieren. Der hormonell gesteuerte Muskelzuwachs, so Krieger, »hat mich unglaublich zufrieden gemacht«. Es stellten sich internationale Erfolge ein: Sie wurde 1983 in Wien Junioren-Europameisterin.
Im ersten Jahr schluckte Heidi Krieger 885 Milligramm Oral Turinabol, ein Jahr später waren es schon 1820, im Olympiajahr 1984 gar 2590. Parallel verbesserten sich die Leistungen. Erstmals stieß sie die Kugel über 20 Meter; sie war in der Weltspitze angelangt, »ein Klasse-Erlebnis«.
Um ihre Gesundheit machte sich die 1,87 Meter große Kugelstoßerin keine Gedanken, sie hatte ein »grenzenloses Vertrauen« zu ihren Betreuern, die gynäkologischen Untersuchungen blieben ohne Befund, und die Menstruation kam so pünktlich und selbstverständlich wie bei Gleichaltrigen.
Nur einmal kam sie kurzzeitig ins Grübeln: Als ihr die Ärzte auftrugen, die Antibabypille einzunehmen. »Was soll icke damit?« fragte sie. Jungs waren für sie nur dufte Kumpel, der einzige sexuelle Kontakt bestand in einem flüchtigen Kuß im Hausflur. Sie wußte nicht, daß Kontrazeptiva Bestandteil des Dopingprogramms waren. Die Mediziner fürchteten ungewollte Schwangerschaften und Mißgeburten, weil Anabolika die sexuelle Stimulanz erhöhen und Föten schädigen können.
Während die Berliner Trainer an ihrem neuen Star bastelten, machten sich im fernen Leipzig Experten Sorgen um die früh angefixte Heidi Krieger, deren Anabolikakonsum als »Sportler 54« in den Akten stand. Da es keinen Sinn macht, Athleten zu dopen, deren Körper noch nicht entsprechend ausgebildet ist, erschien dem Trainingswissenschaftler Lothar Hinz die »vorzeitige Anwendung« unbegründet: »Das Ausgangsleistungsniveau liegt deutlich unter den empfohlenen Vorgabenwerten.« Auch die extrem hohen Dosen der Dynamo-Sportlerinnen paßten den Leipziger Kollegen nicht. Eigentlich dürfte die Grenze von 1000 Milligramm Anabolika im Jahr »in keinem Anwendungsfall überschritten werden«, schrieb Hinz in einer vertraulichen Expertise, »der härtere Kampf um die Nominierung« dränge die Trainer aber »zu langen Einsatzzeiträumen und hohen Jahressummen«.
So verloren auch die Betreuer in Berlin jeden Skrupel. 1986 war für die DDR ein besonderes Jahr, weil die Europameisterschaft im Lande des Klassenfeindes stattfand und Ilona Slupianek, die Olympiasiegerin, ausfiel. Um für Stuttgart gerüstet zu sein, steigerten sie die Dosis bis auf 25 Milligramm täglich. Im Kraftraum imponierte Heidi sogar Männern, wenn sie beim Bankdrücken 150 Kilo in die Höhe wuchtete.
Einige Tage vor dem entscheidenden Wettkampf setzte der Verbandsarzt noch eine »Überbrückungsspritze« mit Testosteron ins Gesäß, die Androgene sollten die aufgebaute Kraft konservieren und die Aggressivität steigern. Honeckers Dopingexperten hatten wieder einmal ganze Arbeit geleistet: Überraschend gewann die 21jährige mit 21,10 Metern; sie lag vor der ebenfalls hochgedopten Kollegin Ines Müller aus Rostock, und sie bezwang sowohl die Weltrekordlerin, die amtierende Weltmeisterin als auch die mitfavorisierte Münchnerin Claudia Losch.
Doch so sehr ihr die Erfolge Genugtuung schenkten, ihr Seelenleben war längst in eine Schieflage geraten. Äußerlich war sie eine Frau mit »stinknormalen Brüsten, jeweils eine gute Hand voll«. Auf der anderen Seite fühlte sie sich dem eigenen Geschlecht nicht mehr zugehörig. Sie hätte ihre Freundin »sofort geheiratet, wenn ich ein Mann gewesen wäre«.
So mühte sich Heidi Krieger, ihre fraulichen Reize zu verstecken. Sie schminkte sich nie, und als vor einem Fernsehauftritt in Stuttgart eine Maskenbildnerin mit einem schwarzen Kajalstift auf sie zukam, fragte sie sich: »Will die mich erstechen?«
Heidi Krieger führte ein anstrengendes Doppelleben. Als »Der Leichtathlet« fragte, ob sie lieber Hose oder Rock trage, antwortete sie: »80 Prozent der Frauen beantworten Ihnen diese Frage: mit Rock. Dazu gehöre ich.« In Wahrheit zwängte sie sich nur zu offiziellen Anlässen in Damenkleidung. Sie hatte Angst, »daß mir der Wind unter den Rock pfeift«.
Sport wurde für Heidi immer wichtiger, er bedeutete nicht Trainingsqual und Leistungsdruck, sondern Befreiung: »Hier konnte ich kräftig sein, ohne mich rechtfertigen zu müssen.« Sie ahnte noch nicht, daß ihr auf 103 Kilogramm hochgezüchteter Körper, dessen sich die DDR zur Produktion von Medaillen bemächtigt hatte, zur seelischen Last werden würde.
Zunächst machten sich infolge des harten und schnellen Aufbautrainings orthopädische Schäden bemerkbar: Der Rücken tat unaufhörlich weh, sie wurde an der Hüfte und am Knie operiert, für Olympische Spiele und Weltmeisterschaften konnte sie sich nicht qualifizieren.
Als sie 1987 nur mit einem vierten Platz von den Hallen-Weltmeisterschaften in Indianapolis zurückkam, wurde sie von Cheftrainer Ekkart Arbeit zusammengestaucht. Auch mehr als fünf blaue Tabletten täglich brachten sie nicht mehr voran. Im Kopf verfestigte sich eine Blockade: In Wettkämpfen erreichte sie niemals mehr die Ergebnisse, zu denen sie in der Lage gewesen wäre.
Nach der Wende versucht Heidi Krieger einen neuen Anlauf, doch Muskeln und Knochen können nicht mehr, sie trainiert nur noch unter Schmerzen. 1991 muß sie ihre Sportkarriere beenden - und verliert damit ihren letzten Halt. Die chemisch aufgetrimmten Muskeln werden zur Belastung, sie findet »keine Beziehung mehr zu meinem Körper«.
Sie wirft alle Röcke und Blusen in den Müll, trägt nur noch weite Kleidung, damit niemand denken könne, sie sei eine Frau. Einige Male fühlt sie »sich angemacht von Leuten, die glauben, ich sei ein Kerl«. Sie geht nicht mehr ins Schwimmbad, meidet öffentliche Verkehrsmittel und schämt sich, die Damentoilette aufzusuchen.
Eines Tages bekommt sie von ihrer Mutter das Doping-Enthüllungsbuch der Heidelbergerin Brigitte Berendonk geschenkt, in dem sie als »Hormon-Heidi« beschrieben wird. Erst jetzt wird ihr bewußt, daß ihr Wunsch, ein Mann zu sein, womöglich mit den blauen Pillen, den irrsinnigen Mengen virilisierender Medikamente, zusammenhängt.
Der Sport ist zu diesem Zeitpunkt für Heidi Krieger schon ferne Vergangenheit. Seit 1991 hat sie keine Trainingshalle betreten. Ihre zwischenzeitlichen Trainer Willi Kühl und Jochen Spenke sind gestorben, ihrem ersten und letzten Betreuer Lutz Kühl hatte sie auf dessen Wunsch einen Gefälligkeits-Persilschein ausgeschrieben.
Heidi Krieger reagiert enttäuscht über ihre Peiniger, die »mein Vertrauensverhältnis ausgenutzt haben«, sie empfindet »Mitleid für Menschen, die sich haben hinreißen lassen, so etwas zu tun«. Nachdem ihr bei einer psychiatrischen Behandlung eine Suizidgefährdung attestiert wird, lernt Heidi Krieger 1994 einen Transsexuellen kennen, mit dem sie in langen Gesprächen ihre durcheinandergewirbelte Gefühlswelt ordnet. Sie beschließt, die ungewollt eingeleitete Umwandlung zum Mann zu forcieren. Ein Arzt verschreibt ihr genau diese Art von Hormonpräparaten, die sie früher im Sport bekommen hat.
Anfang dieses Jahres läßt sich die ehemalige Europameisterin Heidi Krieger in einer vierstündigen Operation endgültig »umbauen«, wie sie sagt. Gebärmutter, Eierstöcke und Brüste werden entfernt. Aus der Narkose erwacht Andreas Krieger. Derzeit läuft der Antrag auf die Änderung des Personenstands.
Zehn Monate nach der Operation genießt Andreas heute »das Kribbeln im Bauch, wenn er mit Frauen flirtet«, und die Blicke, »wenn sich die Damenwelt nach mir umschaut«.
Der Einzelhandelsverkäufer ist von seiner inneren Zerrissenheit geheilt. Doch er weiß auch, daß er nie »ganz normal« sein wird. Das Geschlechtsleben wird immer eingeschränkt bleiben. Er kann sich zwar aus körpereigener Haut in vier Operationen Penis und Hodensack annähen lassen. Doch der Vorgang ist kostspielig und danach, weiß Andreas, »sehe ich zwar wie jeder andere Mann aus, habe aber nur eine Attrappe«. Er hat Angst vor diesem letzten Schritt, auch weil es womöglich Komplikationen mit dem Harnleiter geben kann.
Andreas Krieger fühlt sich in einer Art »Schwebezustand«. Mal könnte er »kotzen vor Ärger« - etwa wenn er wegen seiner Vergangenheit von anonymen Anrufen belästigt oder von »Stern«-Paparazzi »heimlich und hinterlistig wie ein Verbrecher« abgeschossen wird. Doch im nächsten Augenblick fühlt er sich »himmelhochjauchzend - weil ich mich jetzt nicht mehr verstecken muß«.
Udo Ludwig