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Athleten Die Mythen-Maschine

Von Gunter Gebauer
aus DER SPIEGEL 35/1996

Es war ein großes Comeback. Der Mann, den sie in Köln, in Stuttgart und zuletzt im fernen Istanbul erst wie einen Messias gefeiert und später wie einen Verräter fortgejagt hatten, impfte die Beamten-Fußballer von Bayer Leverkusen derart, daß sie gleich zum Bundesliga-Start die Deutschen Meister aus Dortmund vom Rasen fegten.

Und weil die Profis selbst nicht fassen konnten, was der Neue mit dem flackernden Blick da mit ihnen gemacht hatte, stammelten sie etwas von Motivation, Autorität und dem Geist, dem sich keiner entziehen könne. »Daumagie« titelte der Kölner Express in orgiastischer Verzückung über die Rückkehr des Fußball-Pädagogen Christoph Daum.

Die Bundesliga schäumt wieder. Wie Verdurstende warf sich das Publikum auf die »neue« Bundesliga und meldete sich in Rekordzahl bereit für neue Räusche.

Der Durst nach Helden scheint in diesem Sommer kaum noch stillbar. Auf Helden haben es alle Stimmungskanonen des Fußballjournalismus abgesehen: Sat 1-»ran« hat in seiner Berichterstattung die Konzentration auf heroische Persönlichkeiten zum Konzept erhoben. Bild stellte »Sieger Daum« und »Super-Mario« vor - »Helden, die wir sehen wollen«. Die Hamburger Morgenpost führte in der Rubrik »Held des ersten Spieltages« den »Torwart-Dinosaurier Uli Stein«. Und Beckenbauer ließ genüßlich eine häßliche Bemerkung gegen die Mannschaftsideologie seines Nachfolgers im Amt des Bundestrainers fallen: »Die Stars machen die Musik.«

Es ist vor allem ein Typus, der wunderbar zur Heldenreserve taugt: die Davongejagten, Gescholtenen, unrühmlich Entlassenen. Bernd Schuster und Paul Breitner standen früher dafür, heute Stefan Effenberg, Uli Stein und Daum - gefallene Engel, Anti-Helden, die nach einem Zwischenspiel in der Unterwelt überschwenglich wieder aufgenommen werden.

Was etwas mißtrauisch macht an ihrer Rehabilitierung ist, daß ein solches Heldenrecycling auf besonders einfache, geradezu automatische Art dazu dient, die Versorgung mit Heroen sicherzustellen - und gib uns täglich unseren neuen Helden. Es ist der Beweis, daß die Nachfrage größer ist als das Angebot.

Die Produzenten des modernen Sports greifen auf die Heiligsprechung der christlichen Religion zurück. Jede außergewöhnliche sportliche Leistung wird als einmaliges, menschheitsgeschichtliches Ereignis, als Wunder dargestellt. »Heute könnt ihr unsterblich werden«, titelte Bild vor dem Spiel der Fußball-Nationalelf gegen England. Frankreichs Sporttageszeitung L''Equipe ist auf die Entdeckung des Legendären abonniert: Aus Atlanta meldete sie täglich das Eintreffen mehrerer Sieger in der Legende (die Läuferin Marie-José Pérec) oder auch im Pantheon (der Schwimmer Alexander Popow), in der Ewigkeit (die französische Handballmannschaft) oder auf dem Olymp (die Judokämpferin Marie-Claire Restoux).

Mit dem Erzählmuster der Legende wird der frühchristliche Märtyrer im Sporthelden wiederbelebt: Am Anfang ist der Heilige ein unscheinbares Kind, bis ein einschneidendes Erlebnis seine Berufung sichtbar werden läßt. Sein erstes Wunder ereignet sich wie ein Donnerschlag. Inzwischen erwachsen geworden, widmet er sich seiner Wundertätigkeit. Er tut seine Werke nicht für sich, sondern widmet sie einem Höheren - Gott, seinem Land oder den Bild-Lesern.

Kennzeichnend für den Helden aber ist auch, daß er mit menschlichen Schwächen geschlagen ist, die ihm ein böses Ende bescheren könnten. Diese Ambivalenz erhöht die Faszination von Sporthelden. Sie können abrutschen und als Anti-Heilige verstoßen werden, ehe sie nach einem Bewährungsaufstieg wie Stein, Daum, Schuster wieder im Kreis der Heiligen aufgenommen werden.

In den siebziger Jahren übernahm das Fernsehen die Inszenierung des Sports: direkt, live, aus nächster Nähe. Es rückte den Helden auf die Pelle. Damit verschwand deren Entrücktheit; der Heiligenschein verblaßte, Sporthelden gerieten in die Abteilung »Prominenz«.

Als Vorbote galt der junge Cassius Clay. Seine unablässig verbreitete Botschaft »Ich bin der Größte« war die erste gelungene Selbstinszenierung eines Athleten zum medialen Helden. Als er den Weltmeistertitel gewann, noch dazu in der vorhergesagten Runde, hatte er seine künftige Präsentation in der Hand.

Die modernen Sporthelden unterscheiden sich von ihren Vorgängern durch einen deutlichen Schub Smartheit. Ihnen stehen auch neue ökonomische Möglichkeiten offen. Geld macht helle.

Die Champs kennen ihren Wert und sind fähig, durch geschicktes Lavieren vor Mikrofon und Kamera ihren Marktwert zu erhöhen. Sie wissen, wie man durch suggestiven Umgang mit den Medien auf sich aufmerksam macht und dabei gleichzeitig seinem Gegner die Nerven raubt; beispielhaft zelebrierte dies der britische Zehnkämpfer Daley Thompson mit seinem deutschen Konkurrenten Jürgen Hingsen.

Obwohl ihre Größe stärker als je zuvor von den Medien gemacht wird, verstehen es die modernen Helden, wie Franz Beckenbauer, Carl Lewis, Jürgen Klinsmann oder Boris Becker, eine ganze Palette wichtiger Darstellungsstrategien zu ihrem Vorteil einzusetzen: Genie wird durch Show erst richtig genial. Der Fußball-Gott Pelé machte als erster auch außerhalb des Rasens eine exzellente Figur, zauberte im Straßenanzug weiter, wurde zum Darling von Pepsi, Puma und Mastercard und reüssiert gegenwärtig als Minister im brasilianischen Kabinett.

Sport, das haben alle begriffen, ist längst ein Kulturgut. Frühere Helden hätten nicht gewagt, sich im Theater blicken zu lassen. Heute sind Theaterdirektoren stolz darauf, einen Fußballtrainer zu duzen. Wenn doch alles Unterhaltungskultur ist, dann ist Fußball auch nicht blöder als Oper.

Sportler werden nicht einfach geduldet, Sportstars werden als Vorzeigeobjekte präsentiert. Zunächst dienten sie insbesondere Politikern zur Erhöhung ihrer Popularität (Kohls Besuch bei der WM in Mexiko 1986). Heute gilt die umgekehrte Richtung: Sporthelden sehen in der Visite eines Politikers vor allem den Beweis, daß sie ein ernst zu nehmender Faktor des öffentlichen Lebens sind (Kohls Besuch bei der EM in England 1996).

Bei all dieser Überhöhung verspricht der Athlet dem Publikum nur das, was es von ihm erwartet: Unterhaltung. Ein Opfer kriegen die Fans nicht. Wenn im Spiel die Knie kaputtgehen, dann nicht für Deutschland, sondern weil der Sportler selbst den Titel für sich haben wollte. Die Sporthelden des Jetzt sind bescheidener, wahrhaftiger und realistischer als ihre Vorgänger, die über die aufopferungsvolle Tat in die Legende eingehen wollten.

In den letzten Jahren zeichnet sich die endgültige Emanzipation der Athleten vom Religiösen ab. Nicht mehr in der Verlängerung der Figur des Heiligen, sondern als Kultfigur führen sich die Sporthelden auf. Sie zeigen das Idol vor, das sie darstellen, und produzieren Bilder von sich. Mit herausgestreckter Brust wie ein Torero präsentierte sich Andreas Möller nach seinem Elfmetertor gegen England den Fotografen.

Auf der Bühne des Sports wird der Körper regelrecht in Szene gesetzt - der Bilderbuch-Body ist der eigentliche Held der sportlichen Show. So wird die Gestalt zum Mythos; die Helden sind Statue geworden, mit einer Sonnenbrille vor dem leblosen Gesicht. Scheinbar ohne Empfindungen, als seien sie mechanische Körper, bricht nach dem Sieg übergangslos eine exzessive Triumphgestik aus ihnen hervor, wie bei den Superstars von Atlanta.

Schlagartig verwandelt sich die Kampfmaschine in einen emotionalen Menschen. Beim Sprinter Michael Johnson ist dieser humane Moment nur von kurzer Dauer - bereits im Interviewraum bieten seine Gesichtszüge wieder ein ausdrucksloses Bild. Er spricht mit einer betonungsfreien Computerstimme, als gehöre er zur Besatzung des Raumschiffs »Enterprise«. Johnson verkörpert Coolness. Er ist nichts als seine Oberfläche, nichts als sein Bild, das er vollständig kontrolliert. Von seiner körperlichen Erscheinung her ist er ein Verwandter des Terminators, eine Fiktion, die den Übergang vom Menschen zur Maschine markiert: ein Titan-Korpus, der sich auf Befehl mit den Muskeln und der Haut Arnold Schwarzeneggers überzieht.

Zwar sind die Sportlerkörper so etwas wie Masken, aber es gibt sie wirklich - man kann, man soll sie betrachten. Zu einem Kulthelden wird der Athlet aber erst, wenn auch das Publikum seinen Part im Spiel wahrnimmt: wenn es sich, wie es beim Kultfilm geschieht, selbst inszenieren kann - eine Rocky Horror Picture Show im Stadion.

Ein wahres Spektakel machen die Leichtathleten aus den Zuschauern und aus sich, seitdem der Dreispringer Willi Banks eine theatralische Einlage erfand: Vor dem Anlauf wenden sie sich an das Publikum, als seien sie Dompteure; sie fordern das Publikum zu rhythmischem Klatschen auf. Sobald die Anfeuerungen den Grad des Frenetischen erreicht haben, rennen sie los. Bei weiten Sprüngen feiern sie mit ekstatischen Gesten sich selbst und animieren das Publikum dazu, sich seinerseits zu feiern.

So entsteht die perfekte Gesellschaft der Individuen: Jeder bejubelt sich selbst, alle sind begeistert und spielen die Begeisterten.

Sport ist der Markt, auf dem die Athleten, die Werbefirmen, die Medienmacher und die Konsumenten kaufen und verkaufen: Tore gegen Geld, Geld gegen Werbung, Werbung gegen die arrangierten Selbstbilder, Bilder gegen die Beteiligung der Zuschauer. Alle haben etwas davon, aber alle zahlen auch. Alles, was im Spiel ist, hat seine Mythen - die Sportler mit ihren Leistungen, der Reichtum, die Produkte, für die geworben wird, die Bilder, sogar der Einsatz der Zuschauer. Allein der Held bewirkt, daß der große Tausch funktioniert. Er muß alle Mythen wirklich machen.

Das neue Element ist, daß die Mythen schon vor dem Helden entstehen. Nach dem alten Heldenschema waren die Ereignisse zuerst da. Wenn sich die Pulverdämpfe gelichtet hatten, wurde das mythische Ereignis gesponnen. Im nachhinein erklärte man (meistens der Sieger) das Geschehen zur unerhörten Begebenheit. Dann wurde der Thron errichtet, auf den der Held gesetzt wurde.

Das neue Schema kehrt die Reihenfolge um: Am Anfang ist der Mythos. Eine ganze Mythenmaschinerie konfektioniert Mythen von der Stange. Wie am Fließband werden mythische Verkleidungen geschneidert: Instant-Mythen für Wegwerfhelden mit der Lebensdauer eines Bundesliga-Wochenendes. Wer zwei Tore schießt, ist gleich ein Hero - gestern Harry Decheiver, »der Knipser«, heute Ulf Kirsten, »der Knaller« (Bild).

Die meistgebrauchte Floskel bei den Olympischen Spielen in Atlanta war: Ein Traum wird wahr - a dream comes true. Die Goldmedaillen des US-Teams sagten den Amerikanern: Superman lebt, und wir fühlen uns schon viel besser als Amerikaner. »Gönnen wir uns etwas zügellosen Chauvinismus« (Newsweek). Helden sind ein Mittel, Nation und Konsumenten in Stimmung zu bringen.

Angesichts des Gespints vorgeträumter Träume wirkt eine saftige Überraschung - die Silbermedaille des jungen Zehnkämpfers Frank Busemann - wie ein Befreiungsschlag.

Allein ist der Held nichts. Neben den Mythenmachern braucht er die Zuschauer. Ihre Wünsche nach Erzählungen über große, übernatürliche Taten werden angestachelt, ihre Gefühle werden von den Medien auf Hochtouren gebracht wie bei einer Tupperware-Party. Alle Gefühle und Wünsche sind auf Empfang gestellt: »Fiebern Sie mit!« Die erhöhte Temperatur bringt die Helden auf die Höhe. So werden die Zuschauer zu Fans gemacht: Fans für die Mythen.

Die Fans haben ihre Sinne geöffnet für die Botschaften der Werbeindustrie. Kaum sind die ersten Bälle ins Netz gerollt, frohlockt Sport-Bild von »Traum-Toren« in der »Traum-Liga«. Die Bundesliga ist Weltklasse, auch die Zuschauer-Konsumenten sind klasse, Deutschland ist spitze. Über die Sporthelden werden wir zu Fans unser selbst.

Ob die Bundesliga spitze ist, können nur internationale Vergleiche zeigen. Das Heldenschema ist für Prognosen schlecht geeignet. Wie wirklich die Wirklichkeit ist, die die Helden erzeugen, fragt man sich nach dem entgleisten Kampf zwischen den Boxern Dariusz Michalczewski und Graciano Rocchigiani.

Was großsprecherisch als »Weltmeisterschaft« angekündigt wurde, zeigte unfreiwillig die Hinterbühne: Wie schlimm es um die Schmiere zwischen »Tiger« und »Rocky« bestellt war, mag daran zu erkennen sein, daß sich selbst die Bild-Zeitung ("Das war Betrug") an der Aufklärung des Publikums beteiligte.

Doch Besserung ist in Sicht: Am kommenden Samstag kämpft Torsten May aus Frankfurt/Oder um die Weltmeisterschaft im Cruisergewicht gegen den Weltranglistenersten der IBF (was immer das für eine Institution ist), Adolpho Washington. Er tut es nicht auf St. Pauli, sondern in einer Stierkampfarena auf Mallorca. So wird der Sport ehrlich; im Rentnerparadies befindet sich das Boxen auf dem Niveau, das ihm gebührt: wie einst Rex Gildo und Roy Black, die zum Finale der Karriere ihre Schlager auf Butterfahrten feilboten.

* Nach seinem letzten Spiel 1977 in New York.* Nach dem WM-Kampf am 10. August in Hamburg.

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