Vermarktung »Die reine Heuchelei«
Auf Socken schlendert Terry Venables über den feinen Rasen des Golfhotels in Bisham Abbey den wartenden Reportern entgegen. Zwei Wochen lang hatten sie ihn und die von ihm betreute englische Nationalmannschaft als einen Haufen hemmungsloser Säufer beschimpft. »How are you, guys?« begrüßt Venables mit einem triumphierenden Lächeln die Kritiker. Wie aus einem Mund schallt devote Ehrerbietung zurück: »Fine, Sir.«
Dasselbe Team, das nach dem Eröffnungsspiel zur Europameisterschaft von der französischen Sportbibel L'Equipe noch verhöhnt wurde, sein Fußball sei »zwei Weltkriege zurück«, erfuhr vergangene Woche lang entbehrte Hochachtung. »The Field of Dreams«, malte der Parkplatzwächter euphorisch auf den Wegweiser nach Bisham Abbey. Und der britische Blätterwald, vom Hardcore-Boulevardblatt Sun bis zum seriösen Independent, sah das englische Team '96 in direkter Nachfolge der Weltmeister von 1966: »We are back.«
Mit dem 4:1 am vorigen Dienstag hatten sie nicht nur die Holländer aus dem Wembley-Stadion gejagt, sondern auch ihren Komplex abgelegt, wie Hinterwäldler zu kicken. Der Elf um den exzentrischen Paul Gascoigne gelang, was Premier John Major nicht nur im Streit ums Beef versagt bleibt: das Empire erfolgreich gegen Europa zu verteidigen.
Hatten die angeblich so fußballverrückten Engländer in den ersten anderthalb Wochen ein seltsam distanziertes Verhältnis zur »Euro 96« gepflegt, fanden sie jetzt endlich Zugang zu jener Party, die ihnen zu Ehren unter dem Motto »Football comes home« steigt.
Erleichtert registrieren die Herren des europäischen Dachverbandes Uefa, daß die Heimkehr des Fußballs in sein Ursprungsland vom hiesigen Publikum angenommen wurde: »Die Stimmung ist perfekt«, jubelt Uefa-Präsident Lennart Johansson. Zwei Jahre nach dem Kreuzzug ins Fußballentwicklungsland USA und der Kritik an einer hollywoodar- tig durchgestylten Weltmeisterschaft setzen die Fußballmanager nun auf Nostalgie als Instrument des Marketing.
Wo in Chicago oder Los Angeles in VIP-Zelten Shrimps und Schampus gereicht wurden, stehen in England nur riesige Plakatwände, auf denen sich Fans mit verwitterten Gesichtern ihrer Leidenschaft ergeben: Fußball, so die Botschaft, ist nicht sauber und fein, sondern bodenständig, ehrlich und ungekünstelt.
Das archaische Image des englischen Fußballs soll den merkantilen Expansionsdrang der Uefa verschleiern. Stolz verkünden die Funktionäre, daß ihr erstmals auf 16 Teilnehmer ausgeweitetes Turnier nach den Olympischen Spielen und der Fußball-WM die drittgrößte Sportveranstaltung der Welt sei - allein für die TV-Rechte kassieren sie 150 Millionen Mark.
Doch aller Euphorie der vergangenen Woche zum Trotz kann die britische Fußballseele mit dem aseptischen Fußball made by Uefa nichts anfangen. Nicht nur die Schnitthöhe des Rasens ist pedantisch auf acht Millimeter vorgeschrieben; den Spielern ist untersagt, ihre Trikots ins Publikum zu werfen, und der italienische Trainer Arrigo Sacchi wurde sechs Minuten vor seinem möglichen Karriereende pedantisch in die gekalkte Coaching-Zone zurückgewiesen. »Wenn ich meinem Gegner vor dem Anpfiff auf Uefa-Geheiß die Hand drücken und ihm viel Glück wünschen muß«, sagt der schottische Verteidiger Colin Hendry, »dann ist das die reine Heuchelei.«
Als solche empfinden viele britische Fußballanhänger die EM. Was Johansson mit toller Stimmung verwechselt, ist lediglich das Erwachen eines englischen Nationalgefühls und einer neuen Liebe zur Auswahlmannschaft. Hat England spielfrei, finden sich außerhalb der Stadien kaum Hinweise auf das bedeutendste Fußballfest Europas, die Viertelfinalspiele ohne englische Beteiligung wurden praktisch totgeschwiegen. Viele Briten scheinen das Turnier nur zur Befriedigung ihrer Wettleidenschaft zu nutzen.
Zwar erhofft Corinthian Toys, Hersteller von kleinen Spielzeugnachbildungen der heimischen Stars, nach dem Triumph über Holland den Verkauf von über fünf Millionen Puppen. Ob England Europameister werde oder nicht, mache, so rechnete die Geschäftsleitung rasch mal hoch, wohl »den Unterschied von 40 Millionen zu 80 Millionen Pfund aus«.
Ob in Newcastle, Birmingham oder London: Kaum ein Einzelhändler nutzt in seinem Schaufenster die EM zur Werbung. Wo 1990 in Italien jeder Bäcker mindestens eine Weltmeisterschaftstorte kreierte oder während der WM in den USA ethnische Großstadtviertel ganze Straßenzüge mit Girlanden dekorierten, wird die Euro 96 nur auf den Werbeflächen von Nike oder Coca-Cola sichtbar: »Eat Football. Sleep Football. Drink Coca-Cola« - 14 Millionen Pfund kostet den Brausehersteller die Kampagne.
Dabei verwehren die Wirte mit Hilfe muskelbepackter Türsteher nicht selten den trikottragenden Fans ("Football colours are not allowed") den Eintritt in die Pubs. Selbst im armen Mexiko, erinnert sich die Unterhaus-Abgeordnete Kate Hoey, die kaum ein Spiel ihres Lieblingsklubs Arsenal verpaßt, hätten die Menschen 1986 »ein fröhlicheres Fest gefeiert« als ihre reservierten Landsleute in diesen Tagen.
Die Fachfrau, Sportexpertin in der Schatten-Regierung des Labour-Parteichefs Tony Blair, glaubt den Grund für die leidenschaftslose Art, mit der die Gäste empfangen werden, zu kennen: »Der Fußball, den wir erfunden und exportiert haben, hat nichts mehr mit dem Fußball zu tun, den uns die kontinentalen Mannschaften hier vorsetzen.«
Mögen die angereisten Fans, die Experten und Trainer diese EM auch als das sportlich beste Fußballturnier seit vielen Jahren preisen (siehe Seite 194), beim gewöhnlichen Supporter von der Anfield Road oder dem Old Trafford verfängt dieser anspruchsvolle Gourmet-Fußball nicht. »Taktisch sind die Teams alle hoch entwickelt, aber Taktik interessiert uns Engländer nicht«, sagt Nick Hornby, Autor des Fußball-Bestsellers »Fever Pitch«.
»Die Mannschaften sind uns zu anonym«, sagt Hornby. Und schillernde Stars wie Michel Platini, Diego Maradona oder Roberto Baggio scheinen sich im athletischen Fußball der Gegenwart nicht mehr entwickeln zu können, weil alle Spieler im Korsett der Arbeitsteilung nur noch der Mannschaft dienen müssen. »Darunter«, räumt Bundestrainer Berti Vogts ein, »leidet natürlich die eine oder andere Persönlichkeit.« Dem Deutschen Jürgen Klinsmann, dem Briten Paul Gascoigne oder dem Kroaten Davor Suker reichten schon wenige geniale Sekunden, um sich aus der Masse der fast 350 EM-Kicker herauszuheben.
Seit jeher gründet sich die englische Fußballbegeisterung nicht auf feine Technik und vollendete Raumaufteilung. Sie entsteht aus einer Herzensbindung zum Klub, der die Stadt, oft sogar nur das eigene Wohnviertel repräsentiert. »Im Alter von sechs Jahren«, sagt Brian Scurell von der Football Supporters' Association, »wird man von seinem Vater erstmals ins Stadion an der Ecke mitgeschleppt.« Und anschließend bleibe man treu, »der Verein kämpft für uns, wir kämpfen für den Verein«.
Neben dieser tiefen Zuneigung für den Klub ist kaum Platz für die Nationalmannschaft, zumal deren Heimspiele in Wembley stattfinden. Für die breite Masse der Fans aus dem Norden oder den Midlands ist die Anreise somit zu teuer. »Das englische Team«, sagt Andy Barker, Fußballfan und Techno-Musiker, »ist für die meisten Leute nur irgend so ein Klub aus dem Süden.« Und für die mittleren und oberen Stände der englischen Klassengesellschaft steht die Auswahl eh nicht zur Debatte. Deren Spieler - zudem seit drei Jahrzehnten ohne nennenswerten Erfolg - gelten den meisten als Repräsentanten jener Rowdy-Kultur, die sich etwa an Mallorcas Stränden die Sangria flaschenweise beidhändig in den Hals schütten.
So mußten die Organisatoren noch unmittelbar vor dem Anpfiff des Spiels gegen die Niederlande die urenglische Fußballhymne »You'll never walk alone« über die Lautsprecher einspielen, um per Stadionregie Stimmung für die Nationalmannschaft zu erzeugen - in der Klub-Meisterschaft singen die Fans 90 Minuten lang ohne Unterlaß.
Erst der Sieg über Holland hat das Verhältnis der Engländer zu ihrer Mannschaft gewandelt. Die Fußballnation, sonst aufgesplittert in Hunderte von Fangruppen der Klubs, entdeckte den identifikationsstiftenden Support für Terry Venables' Team. Englische Zeitungen veröffentlichten Liedtexte zum Mitsingen, Musiker montierten den Radiokommentar zu allen vier Toren fix zu einem kunstvollen Rap, und selbst Premier Major, der bis dahin seine Abneigung gegen Europa mit dem Ignorieren der EM-Spiele dokumentierte, konvertierte zum Fan: »Eure Leistung war großartig.«
So wurde möglich, daß die Uefa ausgerechnet bei den Gralshütern des erdigen Fußballs ihre Politik der gesellschaftlichen Aufwertung dieses Sports durchsetzen kann. Dabei gelang der Doppelpaß mit der englischen Football Association (FA) besser als manches Zusammenspiel zwischen Gascoigne und Paul Ince.
Bereits 1991 erarbeitete die FA ein Strategiepapier zur Umwandlung der Publikumsstruktur. Vorgeblich sollte durch eine Anhebung der Ticketpreise die Hooligan-Szene aus den Stadien gehalten werden. Doch weder rekrutieren sich die englischen Schläger allein aus der Lower class, noch ist jeder arme Fan ein Hooligan.
Die hohen Preise, die Zwangsabnahme mehrerer EM-Karten und die Verpflichtung, die Tickets selbst abzuholen, sollten offiziell zwar vor den Hools schützen. Tatsächlich aber dienten diese Maßnahmen der Vorabauswahl des Publikums. »Der Arbeiter aus Manchester«, so Hoey, »kann sich keine 45 Pfund für eine Karte leisten - das ist ein halber Wochenlohn.«
Die Folge: Bei den Vorrundenspielen in Leeds, Newcastle oder Nottingham blieben ganze Tribünenblöcke leer. Damit, klagt die Labour-Parlamentarierin, hätten die Verbände die Interessen der gewöhnlichen Fans ignoriert: »Sie brauchen keine Zuschauer im Stadion, das Geld kommt ja vom Fernsehen.«
So gesehen hat sich das Motto »Football comes home« tatsächlich erfüllt. Fußball kommt nach Hause - über BBC, RAI, ARD und ZDF.