Sport Die Suche nach dem Limit
Ein Weltrekord ist eine epische Marke, das Größte, was ein Athlet erreichen kann, er ist mehr wert als jede Goldmedaille bei Olympischen Spielen oder einer Weltmeisterschaft. Denn ein Weltrekord steht symbolisch für das menschlich Machbare, für die Grenze der Leistung. Aber wo liegt sie?
Jeder Sportler träumt davon, die Grenze zu verschieben, höher, schneller, weiter, einen Weltrekord aufzustellen, das ist Motivation, denn es beweist, dass man der Beste ist. Doping hilft dabei.
Aber ein Weltrekord kann auch frustrierend sein - wenn er unerreichbar ist. Eike Onnen hat mit diesem Problem zu kämpfen, er ist Deutschlands bester Hochspringer, ein Medaillenkandidat für Peking.
Er sitzt im Olympia-Stützpunkt in Hannover an einem flachen Tisch, vor sich zwei Zettel. Das eine Blatt ist sein »sportlicher Steckbrief«, 1999 bei den Deutschen Jugendmeisterschaften sprang er 2,06 Meter, 2007 bei einem Meeting in Garbsen 2,34 Meter, das ist seine persönliche Bestleistung. Auf dem anderen Blatt stehen die Weltrekorde im Hochsprung. Die gültige Bestmarke hält der Kubaner Javier Sotomayor, sie liegt bei 2,45 Meter, aufgestellt am 27. Juli 1993 in Salamanca, Spanien. Vor 15 Jahren.
Onnen guckt lange auf den zweiten Zettel, dann sagt er: »Ich würde den Weltrekord gern knacken, ich möchte in die Geschichtsbücher eingehen, aber mir fehlen zwölf Zentimeter. Keine Ahnung, wie das gehen soll.«
Eike Onnen, 26 Jahre alt, probiert alles. Er hat 5 Kilogramm abgenommen, leicht fliegt besser, er wiegt jetzt noch 85 Kilo bei einer Größe von 1,96 Meter, er hat einen Körperfettanteil von 5 Prozent. Er hat seinen Anlauf verbessert, auf 7,5 Meter pro Sekunde. Javier Sotomayor war schneller: 8,4 Meter pro Sekunde. Es ist zum Verzweifeln.
Onnen träumt weiter vom Rekord. »Rekorde reizen mich, sie faszinieren das Publikum, sie sind medienwirksam.«
Es gibt nicht viele in seiner Disziplin, die so denken. »Der Weltrekord ist unter den Hochspringern kaum ein Thema. Da wird nicht drüber geredet. Keiner sagt: Ich trainiere jetzt drei Wochen intensiv, dann wage ich mich an 2,40 Meter und höher. Lieber geben sie sich jede Woche mit 2,30 Meter zufrieden, weil das reicht, um bei einem Wettkampf Geld zu verdienen.«
Onnen steckt in einem Dilemma. Hochsprung könnte ein Paradies sein, eine feinmotorisch komplexe Sportart, die als vergleichsweise sauber gilt, es gibt kaum Dopingfälle. Doch der Hochsprung leidet darunter, dass ihm der eine spektakuläre Moment fehlt. Für den Zuschauer, sagt Onnen, »hat die Disziplin an Attraktivität verloren«.
Die Jagd um Sekundensplitter und Millimeter, sie gehört zu den Olympischen Spielen wie die fünf ineinander verschlungenen Ringe. Mit Hilfe von Bewegungsanalysen aus dem Computer, Ernährungsplänen und Mentaltraining wird der menschliche Körper als Sportgerät ständig verbessert. Doch wann ist sein Potential ausgereizt?
Die Suche nach dem Limit beschäftigt Athleten, Wissenschaftler, sogar Mathematiker. Ein Team des Pariser Instituts für Biomedizinische und Epidemiologische Forschung des Sports sieht das Ende der Rekorde nahen. Die Franzosen haben 3263 Bestmarken analysiert, ihr Ergebnis: Rekorde werden immer seltener gebrochen, Leistungsschübe immer geringer. Im Hochsprung sei bei 2,467 Meter das Ende erreicht, im 100-Meter-Sprint bei 9,726 Sekunden - eine Zeit, die der Jamaikaner Usain Bolt im Mai in New York gerannt ist.
Zu anderen Ergebnissen kommt eine niederländische Studie. Der Statistikprofessor John Einmahl von der Universität Tilburg errechnete anhand der Extremwerttheorie einen Hochsprungrekord von 2,50 Metern. Im Sprint sagt er unglaubliche 9,29 Sekunden vorher.
Wer hat recht? Im Hochsprung ist die Grenze anscheinend erreicht, aber wo sonst noch? Wie schnell kann ein Marathonläufer rennen, wo ein Weitspringer landen? Jede neue Bestleistung treibt den Kitzel weiter.
So gesehen ist Schwimmen die aufregendste olympische Sportart. Seit Jahresbeginn wurden 51 Bestmarken aufgestellt. Drei davon schwamm der Franzose Alain Bernard, ein Prototyp des Rekordjägers.
Als Bernard vor acht Jahren zum Schwimmverein CN Antibes stieß und den Weg an die Weltspitze in Angriff nahm, war er schlaksig und wirkte ungelenk. Bei fast zwei Meter Größe wog er bloß 69 Kilo, »er war nur Haut und Knochen«, sagt sein Trainer Denis Auguin. Doch er hatte lange Arme, schmale Hüften, riesige Füße und ein hervorragendes Gefühl für die Bewegung im Wasser.
Ein Talent. Was ihm noch fehlte, waren Muskeln.
Heute sieht Bernard, 25, aus wie ein Kraftprotz. 88 Kilogramm wiegt er, Oberkörper, Arme und Schultern sind muskelbepackt wie bei einem Footballspieler. Wenn er durch das Becken krault, sieht es aus, als würde er permanent beschleunigen. Bei der Europameisterschaft im März gewann er über 50 und 100 Meter Freistil.
Alle vier Jahre, jeweils in der olympischen Saison, kommt es im Schwimmen zu einer Leistungsexplosion. Bernards Entwicklung steht für die vielen Trends, die als Erklärung dienen: den technische Fortschritt bei den Ganzkörperanzügen, die den Wasserwiderstand reduzieren; die Professionalisierung, die den Athleten erlaubt, sich ganz dem Sport zu widmen; den Wandel in der Trainingsmethodik.
»Schwimmen ist lange als Ausdauersport angesehen worden«, sagt Bundestrainer Manfred Thiesmann. Das habe sich geändert. »Inzwischen wird viel intensiver die Kraft trainiert - nicht nur für die Arme, sondern den ganzen Körper.« Vor allem Sprintspezialisten wie Bernard profitieren von der Erkenntnis, dass schiere Power das beste Mittel ist, um den Vortrieb zu steigern. »Ich liebe es, meinen Körper wie eine Maschine aufheulen zu lassen«, sagt der Olympia-Favorit.
Die aktuelle Rekordflut im Schwimmen aber schürt auch Verdacht. Der fünfmalige amerikanische Olympia-Sieger Gary Hall glaubt, Doping sei einer der Gründe für die Leistungssteigerungen. Und Italiens Weltmeister Filippo Magnini sagt: »Ich glaube, der Franzose hat die richtigen Vitamine gefunden.«
Doping im Schwimmen ist effektiv. Schwimmer brauchen Kondition und Kraft, sie müssen ein enormes Trainingspensum absolvieren und gehören bei den Spielen zu den Vielstartern. Für all das gibt es Mittel. Im Juli wurde die Kurzbahn-Weltrekordlerin Jessica Hardy aus den USA positiv auf Clenbuterol getestet, kurz zuvor Ouyang Kunpeng, Chinas bester Rückenspezialist. Und beim Griechen Ioannis Drymonakos, Europameister über 200 Meter Schmetterling, fand sich ein Steroid im Urin. Clenbuterol und Steroide fördern den Muskelaufbau.
Nicht jeder Schwimmer kann, was Bernard gelingt. Das beste Training verhilft kaum zum Sprung in die Weltelite, wenn die Natur nicht mitspielt. Die besten Athleten sind besonders veranlagt, sie besitzen Siegermuskeln.
Muskelfasern unterscheiden sich in der Geschwindigkeit, mit der sie sich zusammenziehen. Es gibt die langsamen Muskelfasern, sie sind nützlich für Ausdauersportarten wie Radfahren. Schnelle Muskelfasern ermüden rascher, können aber kurzfristig mehr Reserven mobilisieren. Sie sind von Vorteil bei kurzer, heftiger Beanspruchung, beispielsweise beim Gewichtheben.
Alle Sprinter, die 100 Meter in weniger als zehn Sekunden rennen, haben wahrscheinlich im vorderen Oberschenkelmuskel mehr als 90 Prozent schnelle Fasern, aber es gibt auch Athleten mit 95 Prozent langsamen Fasern - ideal für den Marathonlauf.
Konsequentes Krafttraining kann einen Muskel auf das Dreifache vergrößern, aber mit steigendem Alter werden die Muskeln schwächer, mit rund 25 Jahren ist der Höhepunkt erreicht.
In Ausdauersportarten sei es möglich, sein höchstes Leistungsniveau bis zum 35. Lebensjahr zu halten, sagt der Schwede Bengt Saltin vom Zentrum für Muskelforschung in Kopenhagen. »In Schnellkraftsportarten wie Sprinten und Kurzstreckenschwimmen ist das unmöglich.« Bei einem Sprinter wird die Patellarsehne mit 4000 Newton strapaziert, das Sprunggelenk mit 9000 Newton. Das ist so, als würde ein Kleinwagen auf ihr lasten. Saltin ist überzeugt, die Leistungsgrenze ist noch fern. Für den Marathon hat er sie berechnet. Saltin hat aus seinen gesammelten Daten den optimalen Läufer erschaffen: Der virtuelle Athlet läuft die 42,195 Kilometer in 1:57 Stunden. Das sind 7 Minuten und 26 Sekunden weniger als der aktuelle Weltrekord.
Wahrscheinlich aber gibt es längst Rekorde, die jenseits einer errechenbaren Grenze liegen. Der Grund dafür ist Doping. Bis heute haben in der Frauen-Leichtathletik zwölf Weltrekorde Bestand, die zwischen 1983 und 1988 aufgestellt wurden, in der anabolen Blütezeit. Die absurdeste Bestmarke dieser Epoche sind die 10,49 Sekunden über 100 Meter, gerannt von der 1998 plötzlich verstorbenen Amerikanerin Florence Griffith-Joyner.
Die Wunderdroge der Ausdauerathleten ist Erythropoietin (Epo), ein Hormon, das die Bildung roter Blutkörperchen fördert. Es ist, als flösse in den Adern Superbenzin statt Normal. Wie stark die Sportarten mit künstlichem Epo verseucht sind, lässt die Entwicklung der Laufweltrekorde erahnen.
Seit das Präparat Ende der Achtziger die Forschungslabors der US-Firma Amgen verlassen hat, wurden die Bestmarken über 5000 und 10 000 Meter pulverisiert. Auch Radrennfahrer nutzen hemmungslos Epo, angeleitet von Ärzten und Teammanagern. Seit den Spielen 2000 in Sydney gibt es einen Dopingtest für Epo, doch die wenigsten Betrüger werden überführt.
Natürlich werden auch die Spiele in Peking nicht sauber sein, jeder Rekord, der in den 16 Tagen aufgestellt wird, ist mit Zweifel beladen. Trotz 4500 Kontrollen, denn die Nachweismethoden sind so lückenhaft wie das Stahlgerippe des Olympia-Stadions.
Wie leicht die Fahnder auszutricksen sind, hat der dänische Physiologe Carsten Lundby bewiesen. Er spritzte acht Sportstudenten Epo, zunächst alle zwei Tage, in der sogenannten Boosting-Phase, dann nur noch einmal pro Woche. Die Methode entspricht der gängigen Dopingpraxis.
Nach jeder Injektion nahm Lundby Urinproben, er schickte sie zur Analyse an ein Labor der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada). Das Ergebnis ist eine Bankrotterklärung: Die Kontrolleure konnten Epo-Missbrauch nur in allen acht Proben nachweisen, wenn sie aus der Boosting-Phase stammten. Im Urin, den die Studenten 14 Tage nach der letzten Spritze abgaben, fanden die Fahnder nichts, obwohl das Epo noch wirkte. Wer mit kleinen Dosen betrüge, sagt Lundby, »wird nicht überführt«.
Und wer ganz sicher gehen will, nicht erwischt zu werden, der benutzt eines der etwa 30 Epo-Produkte, über deren Aufbau die Dopingfahnder so gut wie nichts wissen. Länder, in denen das Patentrecht nicht gilt, stellen ihre eigenen Epo-Plagiate her, diese sogenannten Biosimilars kommen zum Beispiel aus Vietnam und Indonesien, Kuba und Südafrika. Und aus China. Ein einwandfreier Nachweis existiert nicht.
Doch selbst wenn es einen Test gäbe für vietnamesisches oder chinesisches Epo - erreicht wäre kaum etwas. Ein Sportler müsste nur beides mischen, und schon wäre er möglicherweise fein raus.
Athlet und Kontrolleur liefern sich ein Wettrennen. Amerikanische Wissenschaftler entwickelten zwei Substanzen, Aicar und GW1516, sie steigern die Ausdauer von Mäusen um 44 beziehungsweise 77 Prozent. Die Mediziner arbeiten mit der Wada an einem Test. Sind sie schnell genug?
Epo und Anabolika sind die Plage des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sein Alptraum ist Gen-Doping. Es geht dabei nicht darum, sich Stammzellen aus einer Nabelschnur injizieren zu lassen, sondern um die Manipulation des Erbguts. Es wäre ein Horrorszenario: Die Athleten spritzen sich Gene für Ausdauer, für Schnelligkeit, für Reaktionsvermögen.
Am wahrscheinlichsten ist der Einsatz des Epo-Gens: Mit Hilfe eines Virus wird es eingeschleust, den Rest erledigt der Körper, er bildet rote Blutkörperchen ohne Ende. Bei Versuchen an Pavianen hat sich der Hämatokritwert in elf Wochen verdoppelt. Kraftsportler könnten sich mit Erbgut mästen, das den Organismus weniger Myostatin bilden lässt. Myostatin ist ein Eiweiß, das unkontrolliertes Wachstum der Muskeln verhindert.
»Das wäre dermaßen wirkungsvoll und gefährlich«, sagt Bengt Saltin, »wir müssen den Athleten unbedingt vor sich selbst schützen.« Das Problem ist, dass die Wissenschaft zwar weiß, wie man ein Gen einschaltet, aber noch nicht, wie es wieder gestoppt werden kann. Saltin sagt: »Ein Gengedopter Sprinter könnte bei Olympia in den Vorläufen jeweils Weltrekord laufen. Aber im Finale hält die Patellarsehne den monströsen Oberschenkelmuskeln nicht stand. Sie reißt ein Stück Schienbeinknochen mit heraus und lässt ihn beim nächsten Schritt zersplittern.« Der Motor ist so stark, dass die Karosserie zerfetzt.
Saltin meint, Gen-Doping werde noch nicht praktiziert, weil es zu riskant sei. Wenn es den Forschern gelänge, das eingeschleuste Gen zu kontrollieren, werde es aber nicht mehr lange dauern. »Dann rennt der Sprinter auch im Finale Weltrekord, jeder weiß, dass er manipuliert ist, aber niemand kann etwas dagegen tun.«
Eine Möglichkeit, Doping wirksam zu bekämpfen, wäre ein Blutpass. Wenn jeder Nachwuchssportler eine Blutprobe abgäbe, damit ein Profil erstellt werden könnte, ließe sich später durch Tests belegen, dass Drogen oder manipulierte Gene benutzt wurden. »Nach den Winterspielen 2002 in Salt Lake City hat die Wada versprochen, den Blutpass einzuführen. Nach den Winterspielen 2006 in Turin hieß es, bis Peking sind wir so weit. Sie sind es nicht«, sagt Saltin. »Es gibt zu viele Oldtimer im IOC und in der Wada, die Macht haben.«
Den Hochspringer Javier Sotomayor konnten sie auch so erwischen, 1999 testeten ihn die Fahnder positiv auf Kokain, 2001 auf ein Steroid. Sotomayor behauptet, bei seinem Weltrekord sauber gewesen zu sein. Darf man das glauben?
Hochsprung ist zumindest kein klassisches Feld für Doping. Anlauf, Absprung, Drehung, das ist ein komplexes Bewegungsmuster, Ausdauer ist zweitrangig, Muskelpakete stören. Die Verletzungsgefahr ist groß, der Fuß eines Hochspringers wird beim Absprung 50-mal höheren Kräften ausgesetzt als der eines Spaziergängers. Als Onnen im Mai den 24 Jahre alten deutschen Rekord von Carlo Thränhardt knacken wollte, verletzte er sich am Knöchel. »Wenn es optimal läuft, kann ich 2,40 Meter schaffen.« Fehlen immer noch 6 Zentimeter, um Sotomayor zu überbieten. Onnen überlegt nun, die Latte nicht mehr rücklings zu überqueren, im Fosbury-Flop, sondern bäuchlings, im Straddle.
Eine Sprungtechnik, die seit mehr als 30 Jahren aus der Mode ist. Klingt nach einer ziemlich verzweifelten Idee.
MAIK GROßEKATHÖFER,
DETLEF HACKE