»Diese Kälte, dieses manchmal Tierische«
Selbst zu Hause im Sessel trägt er noch immer den Trainingsanzug. Gedankenverloren fingert er an der Hose mit den blauroten Seitenstreifen. »Zum Beispiel«, sagt er kaum hörbar, »damals beim HSV; hätten wir da das Tor gemacht ...«
Der Fußball-Lehrer a. D. Dietrich Weise erinnert sich. Ja damals, im Sommer, diese Chance, die die Tabellenführung hätte bedeuten können. Statt dessen, nach einem Fehlpaß, die Niederlage; Verkrampfung und Rücksturz ins Mittelmaß. Noch ärger dann der Fauxpas im Frühwinter, als das Team von Schalke gastierte: 0:1 vier Minuten vor Schluß - wieder so ein Abwehrschnitzer, der ihn Tage später die Stellung kostete.
Fast zwei Monate liegt die Pleite nun schon zurück, als ihm die Eintracht aus Frankfurt ohne Erklärung den Stuhl vor die Tür setzte. Aber verwunden ist da noch nichts. Häufig kommt es seither noch vor daß der Trainer nächtens aus dem Schlaf aufschreckt. Und grübelnd wälzt er sich in den Kissen, während an ihm die Bilder einer Kränkung vorüberziehen.
Dieser Hinauswurf, der erste in seiner zwanzigjährigen Laufbahn, hat ihn tief ins Mark getroffen. Mehr noch: Der 52jährige Dietrich Weise leidet erkennbar auch körperlich. Seit dem Tage seines Rausschmisses plagt ihn »eine Erscheinung«, ein warzenähnliches dunkles Gebilde über der geschwollenen Oberlippe. Das deutet er ernsthaft psychosomatisch; er neigt zu solchen Zusammenflüssen.
»Abstand üben«, heißt nun seine Devise, eine Losung, die er sich ständig von neuem vorgeben muß. Allmorgendlich trainiert er in seinem Häuschen nicht nur die Muskulatur, sondern sucht auch das in Aufruhr geratene Seelenleben zu stabilisieren. Bisweilen schlägt er sich in seinem Wohnort Klein-Karben seitlich in die Felder, um ein bißchen zu joggen und die Lage zu überdenken.
Natürlich ist ihm bewußt, daß er jetzt nicht lauthals in Wehklagen ausbrechen darf. 140 Trainerentlassungen seit die Bundesliga besteht - das kennzeichnet die Situation, das berufliche Catch-ascatch-can, in dem er sich zu behaupten hat.
Trainer kommen und gehen- und ausgemacht scheint dem derzeit disqualifizierten Weise, daß er nun kaum befürchten muß, auf Dauer aus dem großen Vabanque-Geschäft verdrängt worden zu sein. Für einen wie ihn, der mit den Frankfurtern immerhin zweimal Deutscher Pokalsieger, mit der Jugend des DFB gar Europa- und Weltmeister war, wird sich auf dem Karussell mit Sicherheit alsbald eine neue Zustiegsmöglichkeit finden.
Weniger die in der Profiliga, wie der dienstälteste deutsche Coach verbittert anmerkt, »brutalen Verhältnisse« stehen dem Trainer im Weg. Er selber, sein hoher und mitunter wohl allzu feierlich vorgetragener Anspruch, seine Empfindsamkeit, vor allem sein chronisch vertracktes Selbstwertgefühl machen ihm das Fußballerdasein schwer.
Von jeher hat der ehemalige Finanzbuchhalter einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft aus Sachsen-Anhalt seinen persönlichen Stil gepflegt. Immer war es ihm zuwider, in der Trainerbranche, jener Schaubude der Schreihälse und exzentrischen Gestalten, als ein typischer Vertreter seines Fachs zu gelten.
Dietrich Weise, der stille, auch am Spielfeldrand noch allzeit gefaßte Sportsmann - eine Ausnahmeerscheinung. Selbst ein Raubauz wie Max Merkel belobigt ungeschmälert des Kollegen Verdienste. Der Altvater des deutschen Fußballwunders, Sepp Herberger, sah ihn kurz vor seinem Tode gar als den künftigen Bundestrainer.
Doch heute, gefördert von der Schmach des unfreiwilligen Ausstiegs, tritt zutage, wie beträchtlich der Preis war, den er für dieses Image bezahlt hat. Zumindest während des letzten Jahrzehnts ist ihm seine Arbeit eher ein Kreuz gewesen. Wie er nun erstaunlicherweise enthüllt, hat ihm der Fußball »nichts gegeben; alle Dinge, die außerhalb des Sports lagen, sind dabei zu kurz gekommen«.
Hinter der Fassade der Ausgeglichenheit verstärkte sich da der Streß, immer auf der Höhe des »1:0-Erfolgs« sein zu müssen. Mal litt der introvertierte Trainer an Entzündungen im Kiefer-Rachen-Bereich, mal an schwer zu lokalisierendem Zahnschmerz, mal an Polypen im Darm. In Ausspannphasen, in Ferienzeiten, suchte ihn entnervender Nachtschweiß heim.
Innerer Druck - verbunden mit einem sich steigernden Bedürfnis, den Profifußball vor seiner »Selbstzerstörung« schützen zu müssen - könnte auch die Ausfälle in jüngster Zeit erklären. Ergrimmt über dessen »Kaspereien« legte sich der nette Mensch aus Frankfurt so auf einer Pressekonferenz mit dem meistens nach außen gewendeten Otto Rehhagel, Trainer bei Werder Bremen, an.
In die Schlagzeilen geriet der Mahner Dietrich Weise, als er erregt nicht einmal davor zurückschreckte, die zuweilen rüden Attacken Franz Beckenbauers auf die Schiedsrichter zu verurteilen. »Widerwärtig und schizophren« nannte er schroff die Willkür des Kaisers.
Ist denn so einer überhaupt noch bundesligatauglich? Oder sind da nicht eher jene im Recht, die es schon seit langem besser zu wissen glauben? Im Kern, heißt die Kritik etwa seiner Gegenspieler in Frankfurt, sei der Fußball-Lehrer »immer ein Herbergsvater gewesen«. Hochbegabt zwar im Umgang vor allem mit jungen Talenten, aber viel zu behutsam und ehrpusselig, um den Profis den unerläßlichen Biß zu vermitteln.
Und er selber räumt ja auch ein, daß er es nie gewollt habe, »das Letzte« aus einer Mannschaft herauszukitzeln. »Der Sieg mag wichtig sein, aber noch wichtiger ist die Gesundheit«, predigt der Softie unbeirrt. Wie zu Zeiten, als er die Fortuna in Düsseldorf betreute oder den 1. FC Kaiserslautern ("Da sind die Rabauken entfernt worden"), gelang es ihm desgleichen in Frankfurt, der Mannschaft Benimm einzutrichtern. Das Ergebnis: Die Eintracht spielt anständig; in der laufenden Saison kein einziger Platzverweis.
Aber was bringt das in einer Sportart, die, wie er durchaus weiß, sich längst »den Zwängen einer totalen Erfolgsorientiertheit verschrieben« hat? In der Regel trägt das dem Trainer bestenfalls Spott ein: »Es gibt Kollegen, die meinen, ich sei ein Spinner.« Doch er kann nicht anders.
Ein Fußballexperte bei der Bestandsaufnahme. Die Weltmeisterschaft, 1981 mit der DFB-Jugend, hat ihm das Bundesverdienstkreuz beschert, und also fühlt er sich seither verpflichtet, seine Kompetenz zu Gehör zu bringen. Düster sieht er den Lieblingssport der Deutschen »an der Grenze«, als »vielleicht schon kaputt« an und die ganze Branche in einer »schweren Glaubwürdigkeitskrise«.
»Diese Kälte, dieses Brutale, dieses manchmal Tierische«, sagt er heftig. Müsse er sich da nicht erforschen, ob er den Job noch verantworten könne?
Keine Frage, daß in Weises generelle Analyse auch einfließt, was mit ihm in Frankfurt geschehen ist. Sosehr der Kopf ihm verbietet, darüber zu lamentieren, rumort das beleidigte Herz, und unverblümt trauert der Geschaßte »den Illusionen« nach, »die in mir zerstört worden sind«.
Denn erkennbar ist der Mann, der nun glauben machen möchte, der Fußball habe ihm nichts gegeben, ein Fußballverrückter. Keiner der 18 Chefdirigenten der 1. Profiliga hat die Trainerarbeit vergleichbar systematisiert, keiner die Leidenschaft, auf einer Rasenfläche von überschlägig 70 mal 105 Metern zu inszenieren, was er sich ausgedacht hat, derart ins fast schon Wissenschaftliche vorangetrieben.
Pflichtbewußt zieht es ihn so nach wie vor täglich in das Souterrain seiner Wohnung, wo in fetten Leitzordnern die entsprechenden Aufzeichnungen lagern. Wer immer Weise auf dem Spielfeld begegnete, findet sich in dieser Datenbank mit seinen Merkmalen, seinen Stärken und Schwächen bis hin zur Entwicklung des Körpergewichts, erfaßt.
Fußball, zumal der bezahlte - für Dietrich Weise eine Art Generalstabsspiel. Und der Heerführer ist er dabei selber. Die von ihm zitierte große Krise des Fußballs ließe ihn vermutlich sehr viel unberührter, empfände er sie in Wahrheit nicht als das Dilemma seines Berufsstandes, den er für zunehmend gefährdet erklärt.
Im Grunde konservativ, nagt an ihm jede Veränderung, die die gute alte Hierarchie durcheinanderbringt. »Der Trainer sollte über allem stehen.« Wird der aber arbeitsteilig - etwa durch einen Manager oder jene Besserwissereien der bei einem Großverein üblichen Souffleure - kürzer gehalten, ist das mit seinem Selbstbild nicht mehr vereinbar.
Gerne würde er seine Aufgabe lockerer, heiterer und dem Wesen des Spiels stärker verhaftet sehen. Fußball als Entertainment? Aber klar doch - »mir wäre ja recht, wenn ich nicht zu diesem bitteren Einsatz gezwungen würde«. Was Weise dabei freilich unterschlägt, ist sein eigenes schwerblütiges Naturell, das ihm den beklagten Überernst geradezu auferlegt.
Theoretisch schwärmt auch er von den Reizen des Kampf- und Kombinationsspiels, deren Höhepunkte seit eh und je im Unkalkulierbaren liegen. Doch andererseits - siehe damals beim HSV oder gegen Schalke - muß dem Perfektionisten »diese Logik des Zufalls« zu banal erscheinen. So sehr ihn wurmt, daß ihn in Frankfurt zum Beispiel sein ehemaliger Bewunderer Jürgen Grabowski fallengelassen hat - noch schwerer lastet auf dem Statistiker und Planbarkeitsfanatiker die Beliebigkeit, die den Erfolg unberechenbar macht.
Steigt er aus? Es gibt Momente, in denen er sicher ist, seiner permanenten Überforderung nun endlich entfliehen zu müssen. Doch im gleichen Atemzug hält er es wieder für »völlig undenkbar, daß ich dem Fußball, der mein Leben war nicht mehr dienlich bin«.
»Gesetzt den Fall«, sagt Dietrich Weise, »es käme ein Anruf von Fortuna Düsseldorf.« Nein, nicht daß er da den Kollegen, seinen Freund Dieter Brei verdrängen möchte, ganz im Gegenteil. Nur: Gesetzt den Fall, der Klub, der sich in argen Abstiegsnöten befindet, könnte sich vorstellen, er, der Erfahrene, der vormalige Retter, habe noch etwas beizutragen ...
Was macht dann einer wie Weise, dem die Vorbildfunktion über alles geht? Er würde darauf drängen, daß er »bloß mit dem Dieter zusammen ... irgendwie« - um danach die Bürde auf sich zu nehmen.