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TSCHECHIEN Dino unter Diven

Im Nationalteam scheiterten die Stars um Pavel Nedved immer wieder an ihrer Disziplinlosigkeit. Erst der kantige Trainer Karel Brückner hat den verwöhnten Spielern Teamspirit vermittelt.
aus DER SPIEGEL 25/2004

Die Runde der Nationalspieler, die sich in der letzten Maiwoche im Prager Nobelrestaurant »Lávka« zu einer diskret organisierten Party traf, hatte von ihrem strengen Boss nichts zu befürchten.

Ganz im Gegenteil: Karel Brückner, 64, genoss die feuchtfröhliche Feier als eine Art Ehrengast und machte sich, wie einer der tschechischen Profis belustigt erzählt, erst gegen Mitternacht auf den Weg ins Teamquartier im »Hotel Praha« - nachdem die Go-go-Tänzerinnen ihre Bühnenshow beendet hatten.

Dass der sonst so knorrige Cheftrainer kurz vor dem Ernstfall, der Europameisterschaft, inmitten seiner Kicker dem süßen Leben frönte, war als Verbeugung vor seinem wichtigsten Spieler zu verstehen. Eingeladen hatte Pavel Nedved, 31, den das Fachblatt »France Football« im vorigen Dezember zu »Europas Fußballer des Jahres« gekürt hatte - er wollte sich knapp sechs Monate nach der Preisverleihung endlich bei den Kollegen bedanken.

Jeder seiner Mitspieler bekam einen kitschigen Kristall und einen wertvollen Kugelschreiber geschenkt, in den Nedved seinen Namen hatte eingravieren lassen. »Ohne die Hilfe von euch allen«, sprach der Mittelfeldrenner mit der blonden Mähne ergriffen beim Toast, »hätte ich diese Auszeichnung niemals bekommen.«

Es war der erste Abend, den Tschechiens Nationalspieler zusammen auf dem Weg nach Portugal verbrachten, und es soll bis zum 4. Juli, dem Tag des EM-Finales, das letzte Mal gewesen sein, dass die Mannschaft die Sperrstunde überzog. So hat es sich jedenfalls Karel Brückner vorgestellt, der das Team nach klaren Prinzipien führt: harte Arbeit, akribische Vorbereitung, keine Kompromisse, keine Ablenkung, Bettruhe um 23 Uhr.

Entsprechend galt nach der Landung in Lissabon am vergangenen Donnerstag alle Aufmerksamkeit dem Auftaktspiel gegen Lettland. Immer wieder unterbrach der Coach beim Training im »Parque de Jogos do Sport« von Sintra die Spielzüge und erläuterte seinen Profis taktische Anweisungen, die er sich auf losen Zetteln im DIN-A5-Format notiert hatte.

Es ist eine spannungsgeladene Konstellation, in der die tschechische Nationalmannschaft, am Mittwoch kommender Woche in Lissabon der letzte Gruppengegner der Deutschen, nach mehreren gescheiterten Anläufen endlich mal wieder zum Erfolg kommen will bei einem großen Turnier.

Auf der einen Seite stehen Cracks wie Nedved von Juventus Turin, Milan Baros vom FC Liverpool, Jan Koller und Tomás Rosický von Borussia Dortmund, Jaroslav Plasil vom AS Monaco oder Tomás Galásek von Ajax Amsterdam, die schon in jungen Jahren ins westliche Ausland gelockt wurden, dort bei Topadressen des europäischen Fußballs Titel sammelten und zu Einkommensmillionären avancierten.

Auf der anderen Seite steht Karel Brückner, der bei seinen Trainerjobs über die Grenzen der untergegangenen sozialistischen CSSR niemals hinausgekommen ist. Nicht mal nach Prag zog es ihn, er blieb ein Mann für die Provinzclubs. Mal arbeitete der wortkarge Tüftler, der mit seinen Assistenten stundenlang über Standardsituationen und Laufwege brüten kann, bei Vereinen wie Sigma Olmütz, TJ Vitkovice oder Petra Drnovice. Dann wiederum heuerte er beim Verband als Nachwuchs-Coach der U 21 an.

Brückners Auftrag ist klar. Der Trainer-Dino mit dem weit über die Ohren wuchernden schlohweißen Haar soll der Dompteur sein für die sehr begabten, aber nicht minder verwöhnten Fußball-Diven - eine Autoritätsperson mit Sachverstand und Charisma also, die der Generation Nedved bislang für die großen Siege mit der Nationalelf gefehlt hat.

Bei der EM 1996 verloren sie durch Oliver Bierhoffs »Golden Goal« das Finale gegen Deutschland. Vier Jahre später qualifizierte sich Tschechien mit zehn Siegen in zehn Spielen - und reiste schon nach der Vorrunde wieder ab. Geradezu bizarr waren die Umstände, unter denen das Team im November 2001 das Ticket für die Weltmeisterschaft in Südkorea und Japan verschleuderte. Die beiden Relegationsspiele gegen die biederen Belgier verlor es binnen vier Tagen jeweils 0:1.

Karel Brückner kennt die Hintergründe, aber er spricht nicht darüber. Etwa, dass einige Profis vor dem Rückspiel in Prag ihre Luxusherberge an der Peripherie der Hauptstadt in einen wilden Amüsierbetrieb verwandelt hatten.

Ein Teil der Mannschaft saß nach den Berichten des Hotelpersonals mehrmals bis in die

frühen Morgenstunden grölend und saufend im Restaurant. Eine Rezeptionistin bekam einen Weinkrampf, nachdem sie von einem betrunkenen Kicker angemacht worden war. Das Zimmer eines Stürmers war mit Erbrochenem übersät. Prostituierte sollen durch die Gänge gelaufen sein.

Das Chaos war möglich, weil Brückners Vorgänger Jozef Chovanec die Kontrolle über das Team längst verloren hatte. So soll auch Chovanec vor dem entscheidenden Belgien-Spiel gezecht haben, saß allerdings, wie eine Augenzeugin sich erinnert, mit Mitgliedern seines Trainerstabs in einem anderen Hoteltrakt als die Profis. Auf der Suche nach Ablenkung war der Coach verblüffend kreativ: Unmittelbar vor der Abfahrt ins Stadion ermittelte er in einem privaten Wettbewerb, wer den weitesten Golfabschlag habe: er oder Starspieler Karel Poborský. Darstellungen, die Chovanec »als falsche Informationen« zurückweist.

Wie zerrüttet die Gemeinschaft war, zeigte sich unmittelbar nach dem Aus gegen Belgien. Torhüter Pavel Srnícek, der sich von den Exzessen fern gehalten hatte, randalierte, tief frustriert über die fahrlässig vergebene WM-Teilnahme, in der Kabine - und machte Nedved, der wie Stürmer Baros vom Platz geflogen war, als einen der Schuldigen an dem Desaster aus.

Knapp zwei Monate später übernahm Brückner. Er fand Fußballer vor, unter denen augenscheinlich so etwas wie eine Sehnsucht nach professioneller Führung herrschte. Unmittelbar vor der Europameisterschaft sitzt jedenfalls Tomás Ujfalusi, der Abwehrspieler des Hamburger SV, nach einer ausgedehnten Trainingseinheit mit nassen Haaren in der Lobby des Mannschaftsquartiers, beißt in eine Birne und betont, dass er unter dem neuen Chef wieder »Lust an der Leistung« verspüre: »Ihm entgeht nichts, und wir wissen, dass er ein absoluter Fachmann ist.«

Die Schlüsselfigur war Pavel Nedved. Gerade in den Tagen vor dem EM-Start wurde der Kapitän in zahlreichen Elogen als schweigsamer, höflich-bescheidener Dorfjunge aus dem Plattenbau verklärt. Dabei zählte zu den offenkundigen Schwächen der tschechischen Elf, dass ihr unumstrittener Wortführer im Mittelpunkt jeder Ballstafette stehen wollte.

In vielen Gesprächen überzeugte Brückner seinen Superstar, sich mit seinem aggressiven, laufintensiven und fintenreichen Spiel wie bei Juventus Turin in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Jetzt schuftet Nedved, wenn es lohnenswert erscheint, für einen Kreativen wie Tomás Rosický, der präziser und wirkungsvoller als er die entscheidenden Offensivzüge einleiten kann.

Nach außen hin jedoch darf der Spielführer seine Sonderrolle weiter voll ausleben. Die hat sehr viel damit zu tun, »dass Nedved, was die reine Gage betrifft, der derzeit bestbezahlte Profi in Italien ist«, wie sein Berater Zdenek Nehoda stolz verkündet. Kolportiert werden fast acht Millionen Euro jährlich.

Nedved ist der einzige Spieler im Kader, der zu Länderspielen bisweilen im Privatjet einschwebt. Als die Tschechen zur EM-Vorbereitung eine Woche im österreichischen Seefeld verbrachten, in dieser Zeit jedoch Umberto Agnelli, der Ehrenpräsident von Juventus Turin, verstarb, ließ sich Nedved mal eben von Innsbruck nach Italien fliegen, um bei der Beerdigung seines Dienstherrn anwesend zu sein. Stunden nach der Zeremonie spazierte der Jetsetter aus dem böhmisch-bayerischen Grenzgebiet wieder durch die Seefelder Fußgängerzone, das Mobiltelefon am Ohr.

Ausgewiesene Kenner der tschechischen Fußballszene wie Spieler-Agent Pavel Paska, der mehr als die Hälfte der aktuellen Nationalkicker des Landes in den Westen transferiert hat, bescheinigen Brückner »eine integrative Kraft«. Die Spieler haben ihrem Trainer den Spitznamen »Klekih-petra« verpasst, weil er, wie sie finden, aussehe wie der weise Schulmeister der Apachen in dem Film »Winnetou I«.

Nur die Fans im eigenen Land bleiben vorerst sonderbar reserviert. So verzichtete das tschechische Fernsehen im Frühjahr beim Freundschaftsspiel in Palermo gegen Italien auf eine Direktübertragung. Sobald zur Prime Time Livebilder von der Nationalmannschaft liefen, brachen den Sendern die Quoten ein.

Auch in die Stadien locken Tschechiens Ballkünstler ihre Anhänger derzeit nur bedingt. Zum vorletzten EM-Test gegen Bulgarien verloren sich in der durchaus komfortablen Arena von Sparta Prag gerade mal 6600 Zuschauer. MICHAEL WULZINGER

* Mit Ehefrau Ivana Nedved und Rosický-Freundin Radka Kocurovábei der Ehrung zum »Fußballer des Jahres« am 16. Juni 2003 in Prag.

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