Disziplin am Tisch
Wir wissen, wie man in dieser Höhe spielen muß«, sagte Mexikos Daviscup-Kapitän Raul Ramirez. Er setzt auf die ungewöhnlichen Bedingungen in der 2240 Meter hoch gelegenen Landeshauptstadt, weil er meint: »Die Deutschen wissen es nicht.«
Da »fliegen die Bälle und fliegen«, so Ramirez, »wie bei extremem Wind«. Nicht jeder schaffe die Umstellung. »Sie werden sich beklagen, wie schwer in der Höhe von Mexiko-Stadt zu spielen ist«, prophezeite er den Deutschen.
Mexikos Equipe zog sich zwei Wochen vor dem Daviscup-Duell (7. bis 9. März) in Klausur zurück. Ramirez, 32, bereitet sie »physisch und psychisch hundertprozentig« vor. Aus gutem Grund: Der Verlierer muß schon im nächsten Spiel gegen den Abstieg aus der Gruppe der 16 Elite-Mannschaften kämpfen.
Dagegen nahmen die Deutschen noch das Turnier letzte Woche in La Quinta (US-Staat Kalifornien) mit, bevor sie aus der Ebene anreisten. »Die Anpassung ist nicht optimal«, räumte Jens-Peter Hecht ein, der Sprecher des Deutschen Tennis-Bundes (DTB).
Wimbledonsieger Boris Becker, 18, könnte in der dünnen Luft tatsächlich das Atmen schwerfallen. Ein athletischer Typ wie er, 83 Kilogramm schwer, leidet unter solchen Verhältnissen meist mehr als Leichtgewichte. Auch haben wissenschaftliche Untersuchungen an jüngeren Menschen in der Höhe verstärkte Schwankungen des vegetativen Nervensystems ergeben. Zudem zählt Mexikos Hauptstadt zu den berüchtigten Smog-Metropolen der Welt.
Am Spielort nimmt ein Neuankömmling zwölf Prozent weniger Sauerstoff auf als im Flachland. Entsprechend büßt er an Leistungsfähigkeit ein. Noch zwei bis drei Wochen nach der Ankunft besteht »ein Defizit von fünf bis sechs Prozent«, weiß Mannschaftsarzt Professor Josef Keul. Er soll mit einem Arsenal von Pillen die fehlende Anpassungszeit wettmachen.
Durch Biovital wollen die Spieler ihre Höhenanpassung beschleunigen. Gegen die gefürchtete Rache Montezumas, Magen- und Darminfektionen, konsumieren sie vorbeugend Metifex.
Vorsichtshalber bringt die deutsche Tennistruppe ihren Käse selbst mit, dazu auch Brot und Milchpulver, Wurst, Fleisch, Müsli und Mineralwasser zum Trinken und Zähneputzen. Disziplin am Speisetisch ist erste Athletenpflicht: Salate, rohes Gemüse, Obst und Eis stehen auf dem Küchen-Index. Für den Notfall hält Keul Sauerstoff und Beatmungsmasken bereit.
Die Heimat nimmt die medizinischen Probleme kaum wahr. »Deutschland muß gewinnen«, so Ramirez. Der Kapitän legt die Favoritenrolle der deutschen Daviscup-Finalisten von 1985 als psychologisches Plus für sich aus. »Das erwarten alle.« Mexiko dagegen habe nichts zu verlieren. Und »im Daviscup ist alles möglich«.
Das hatte Ramirez schon als Spieler bewiesen: 1975 schaltete er durch zwei Einzelsiege (gegen Stan Smith und Roscoe Tanner) sowie seinen großen Anteil am Erfolg im Doppel das US-Team sogar in Kalifornien aus. Im Jahr darauf erlag gar die damalige Nummer eins im Welttennis, Jimmy Connors, in Mexiko der Höhe, dem Streß des Siegenmüssens und der Favoritenrolle beim Gesamtstand von 2:2 im entscheidenden Spiel gegen Ramirez.
Im letzten Jahr eliminierten die Mexikaner Peru und Kanada. Dann stiegen sie durch ihren Erfolg über Brasilien in das Feld der 16 Tennis-Nationen auf, die den Daviscup ausspielen. Dabei bewährte sich eine Nachwuchs-Equipe um den Linkshänder Leonardo Lavalle, 18.
Das »Allround-Talent« (Ramirez) gewann 1985 in Wimbledon das Junioren-Turnier, trotzte im November der aktuellen Nummer eins, Ivan Lendl, in Melbourne vier Sätze ab und triumphierte _(Becker, Maurer (o.); Maciel, Lavalle. )
dabei im zweiten Satz 6:0. Der 52. der Weltrangliste bereicherte seinen Rekord im Januar durch einen Sieg gegen den Schweden Stefan Edberg.
Bei Lavalles Partner Francisco Maciel, 22, hoffen die Deutschen auf einen Schwachpunkt. Der 77. der Weltrangliste hat zwar keine großen Erfolge bei wichtigen internationalen Turnieren aufzuweisen, doch im Daviscup steigerte er sich jedesmal beträchtlich. So erkämpfte er gegen Kanada, Peru und Brasilien jeweils zwei Punkte.
Auch auf sein Doppel hofft Ramirez, denn »wir sind besser eingespielt als die Deutschen«. Ihm war der Krach um die Besetzung des deutschen Doppels nicht entgangen. Bei Turnieren spielt Becker mit dem Jugoslawen Slobodan Zivojinovic zusammen. Im Daviscup war Andreas Maurer sein Partner. Doch vor dem European Cup im Januar verzichtete Maurer auf die undankbare Rolle an Beckers Seite und stellte seinen Platz »einem Jüngeren zur Verfügung«.
Da auch Becker fehlte, setzte Daviscup-Trainer Nicola Pilic das Doppel Ricki Osterthun/Tore Meinecke ein. Beide enttäuschten die Erwartungen. »Boris ist auch nicht gerade der Supertechniker im Doppel«, mischte sich der Profi Wolfgang Popp in den Streit um den »undankbaren Job« ein. Die »Posse um die bessere Hälfte« ("Süddeutsche Zeitung") für den Daviscup endete mit einer abermaligen Einladung an Maurer. Pilic: »Wir können kein Risiko eingehen.«
Aber auch die Mexikaner haben ihre Probleme. So wird dem Präsidenten des Tennis-Verbandes Leonardo Lavalle Legaspi der Vorwurf gemacht, er verschleudere aus persönlichen geschäftlichen Interessen leichtfertig den Heimvorteil.
Die Kritiker folgten dem Vater des erfolgreichen Daviscup-Spielers noch dabei, die Begegnung nicht im Stadion Chapultepec auszutragen: Es faßt äußerstenfalls 5000 Zuschauer. Aber Lavalle mochte auch nicht die Stierkampf-Arena nehmen, wo Umbauten kaum erforderlich gewesen wären.
Statt dessen errichtete Bauunternehmer Lavalle im Deutschen Klub auf Verbandskosten für 70000 Dollar 13 Meter hohe Stahlrohrtribünen, die 8900 Zuschauern Platz bieten. Die Gerüste schwankten so im Wind, daß Klubpräsident Federico Boehm vorsichtshalber »die alleinige Verantwortung für die Sicherheit der Einrichtungen« dem mexikanischen Verband zuschob.
Doch ein Heimspiel wird es für die Gäste beileibe nicht. »80 bis 90 Prozent der Mitglieder im Deutschen Klub«, so Ramirez, »sind Mexikaner.«
Einen vermeintlichen Vorteil der Deutschen neutralisieren die Mexikaner durch ihre Wahl des Bodenbelages: Der geringere Luftwiderstand beschleunigt zwar Beckers Kanonen-Aufschläge. Aber der rote Sand des Spielplatzes vermindert die Wucht des Absprungs wieder, verglichen mit Beton- oder Rasenplätzen.
»In Hamburg war Boris gegen die USA auf Sand doch auch sehr gut«, beschwichtigte DTB-Sprecher Hecht. Doch Trainer Pilic warnte schon vor »zuviel Euphorie«.
Gern erinnern sich die Mexikaner an den bisher einzigen Daviscup-Gipfel beider Länder 1957 in Köln. Damals wurde das letzte Einzel wegen Dunkelheit unterbrochen. Aber es mußte nicht mehr beendet werden: Mexiko führte schon uneinholbar 3:1.
Becker, Maurer (o.); Maciel, Lavalle.