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Dollar, Nerz und Wodka

Vor allem über drei Trainer führt der Weg zu Eiskunstlauf-Medaillen, auch bei den bevorstehenden Weltmeisterschaften: Jutta Müller, Carlo Fassi und Stanislaw Schuk. *
aus DER SPIEGEL 11/1984

Bei den DDR-Eiskunstlauf-Meisterschaften begab sich Sportchef Manfred Ewald zu den Siegerinnen. »Ihr alten Damen solltet jetzt aufhören«, forderte er sie auf. »Wir brauchen euch als Trainerinnen.«

Vizemeisterin Jutta Müller, damals 26 Jahre alt, nahm den Wunsch als Befehl, studierte Sport an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport (DHfK) in Leipzig und hat mit bisher 41 Medaillen, darunter 21 goldenen, »dazu beigetragen, das Ansehen unserer Republik in der Welt zu erhöhen«.

Fast zugleich mit Jutta Müller, 1954, beendete der Italiener Carlo Fassi nach zwei Europatiteln seine Karriere und wechselte als Profitrainer an die Bande. Er brachte schon vier Olympiasieger heraus; Schüler aus Asien und Australien, Europa und Amerika drängten in seine Trainingszentren in den USA. »Wenn sie zahlen, nehme ich sie«, sagt er.

Der Sowjetrusse Stanislaw Schuk kämpfte bis 1960 mit seiner Ehefrau Nina gegen das deutsche Paar Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, vor allem aber gegen die Rivalen aus dem eigenen Lande, das Ehepaar Protopopow. Nach zwei Vize-Europameisterschaften entdeckte er als Trainer die erfolgreichste Paarläuferin der Welt, Irina Rodnina. Wenn nicht der Wodka seine Karriere unterbrach, drang er vor zu »Schwierigkeitsgrenzen, die noch niemandem in der Welt zugänglich sind«.

Bei den Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften, die vom 18. März an in Ottawa ausgetragen werden, betreuen alle drei ihre Musterschüler in Kanada. Jeder steht für ein politisches System und repräsentiert es zugleich in seiner Person.

Jutta Müller, 55, die Tochter zweier Arbeitersportler, bringt die Favoritin für den Damenwettbewerb mit, die Olympiasiegerin Katarina Witt. Schon bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD 1946 war Jutta Müller der SED beigetreten und hatte nach einer Schnellausbildung als Junglehrerin an zwei Schulen abwechselnd unterrichtet.

Der erste Star, den Jutta Müller als Trainerin ausbildete, war ihre Tochter Gabriele Seyfert. »Wir standen als politisch isoliertes Land abseits«, erinnert sie sich an ihren ersten gemeinsamen Auftritt bei den Europameisterschaften 1961. »Niemand hat mit uns gesprochen.«

Damals wurde die Tochter 21. von 24 Teilnehmerinnen. Aber 1967 holte sie den ersten Eislauf-Europatitel in die DDR. Gabi Seyfert schaffte mit drei Europa-, zwei Weltmeisterschaften und der olympischen Silbermedaille 1968 den internationalen Durchbruch im Eislauf für den SED-Staat.

Doch dann mußte die Mutter alle Parteilichkeit aufbieten, damit ihre Tochter der Republik erhalten blieb. Gabi sollte nicht den österreichischen Star Emmerich Danzer heiraten und mit ihm bei der Wiener Eisrevue als Profi auftreten. Gabi Seyfert bestellte das Aufgebot mit dem DDR-Eistänzer Eberhard Rüger, lud die Hochzeitsgäste dann aus, heiratete ihn später doch, ließ sich scheiden und heiratete wieder, alles in der DDR.

»Nichts weiter als harte Arbeit« bereite ihre Trainingserfolge vor, erklärte Jutta Müller. Aber das System hilft: Es liefert Talente frühzeitig, mit fünf, sechs Jahren, in die drei Leistungszentren Berlin und Dresden ein - oder zu Jutta Müller nach Karl-Marx-Stadt. Dort bildet sie ihre Schüler zunächst zu perfekten Pflichtläufern aus, denn »nur wer in der Pflicht vorne ist, kommt auch aufs Treppchen«.

Mit ihrem Schüler Günter Zöller, der immerhin schon Bronzemedaillen gewonnen hatte, wechselt sie kein Wort mehr, seit er in den Westen abgesprungen und dort selber Trainer geworden war. Anett Pötzsch trainierte sie zum Olympiasieg. Musterschüler Jan Hoffmann führte die Meistertrainerin der Republik zu Europa- (vier) und Welttiteln (zwei). Allerdings mußte Hoffmann nach Verletzungen ein Jahr aussetzen. Sonja Morgenstern befand sich als EM-Dritte auf dem Weg zur Weltspitze. Da zwangen schwere Verletzungen sie zur Aufgabe.

Jutta Müller spürte früh, daß »der Trend von der Disco-Musik weggeht«, und ließ Katarina Witt 1983 nach Mozart-Melodien ihre Kurzkür vortragen. Durch eine schwarze Kniebundhose im Rokoko-Stil verstärkte sie den Eindruck noch.

Auf die Präsentation kommt es Jutta Müller wesentlich an: Den Nerz trägt die Trainerin schon vor dem Frühstück bei der Pflicht; an ihren Fingern blitzt unter den Scheinwerfern Hochkarätiges, die Frisur wechselt oft, mal hochtoupiert, mal streng nach hinten gebunden. Perücken legt sie nicht mehr an, seit eine durch die ungeschickte Bewegung eines Schülers vor den indiskreten TV-Kameras beim Warten auf die Noten verrutschte. »Kein Hauch von Ostblock«, wunderte sich die Wiener »Presse« - wenn das Sächsisch sie nicht verriete.

Auch Carlo Fassi, 54, ist die Herkunft anzusehen. Er verstrahlt italienischen Charme, so intensiv, daß Kritiker kolportieren, er korrumpiere Kampfrichterinnen durch Blumengrüße und Handküsse. »Ich bin nur höflich«, dementiert er. Fassi nutzte seine Chance 1962. Bei einem Flugzeugabsturz war die US-Mannschaft samt Trainer umgekommen. Der Italiener sollte in den USA ein neues Team aufbauen. In Denver und Colorado Springs leitete er für 20 000 Mark Monatseinkommen zusammen mit

seiner deutschen Frau Christa Trainingszentren.

Die Fassis produzierten Medaillen in Serie: Peggy Fleming und Dorothy Hamill schafften olympisches Gold an, nacheinander wurden John Curry und Robin Cousins Olympiasieger. Cousins dankte »den Sieg zu 99 Prozent Carlo«. Bei internationalen Titelkämpfen betreuten die Fassis bis zu acht Schüler.

Ihr Ruf lockte immer mehr Sternchen an, die Medaillen und anschließend sechsstellige Profiverträge erhofften. So fielen vorwiegend fertige Läufer in Fassis Camp ein. »Wir verpassen ihnen den letzten Schliff«, versprach der Chef. Zuletzt stießen die bundesdeutschen Medaillengewinner Manuela Ruben und Norbert Schramm dazu. Rudi Cerne trainierte schon vorher bei ihm.

Viele Könner steigerten sich gegenseitig schon im Training. Ein Choreograph steht auf Abruf bereit, wenn eine Kür neu zusammengepuzzelt werden soll. Pflicht- und Kürtraining finden in gesonderten Hallen statt. Bedarf ein Läufer des Trostes, springt Christa Fassi ein, die selber als hochgelobte Trainerin arbeitet. »Ich kann von sechs Uhr früh bis Mitternacht arbeiten«, prahlt Fassi.

Die Kritik einiger Enttäuschter geht unter, die wie der Olympiasieger von Sarajevo, Scott Hamilton, behaupten, »ich habe in Denver nichts gelernt«. Kreativität und Phantasie, Detailplanung bis in die Gestik, das Feilen an jedem Sprung verkauft Fassi nach den Regeln der Marktwirtschaft. Er nimmt 18, seine Frau 17 Dollar pro 20-Minuten-Lektion; aber zur Trainingsgruppe gehören oft ein Dutzend und mehr Läufer.

Dazu leitet er mal in der Bundesrepublik, mal in Frankreich einen Lehrgang, der etwa 25 000 Mark einbringt. Mit der Olympiasiegerin Dorothy Hamill prozessierte er, nachdem sie zur Eisrevue abgewandert war, um rückständiges Honorar. Inzwischen ist Fassi Teilhaber des Trainingszentrums in Denver. Den Bundestrainerposten lehnte er ab. »Wir sind nicht in der Lage«, bedauerte Eislauf-Präsident Dr. Wolf-Dieter Montag, »seinen Vorstellungen entgegenzukommen.«

Von phantasievollen, tänzerischen Einlagen, die Fassis Schüler Curry und Cousins oder auch neuerdings Schramm in ihre Kür einbrachten, hält Stanislaw Alexejewitsch Schuk (deutsch: Käfer), 49, wenig. Seine früheren Rivalen und Nachfolger im Paarlauf, die Protopopows, schimpfte er »Traumtänzer«, weil sie ihre Kür balletthaft, wenn auch russisch-plüschig, angelegt hatten.

Schuk drillt seine Schüler auf Tempo, Schwierigkeiten und technische Perfektion. »Sport ist Arbeit«, sagt er, und danach trainiert er auch. Manchmal löst sich der Streß, wie bei der WM 1978 bei seiner Schülerin Marina Tscherkassowa, in Tränen auf. Mit ihr verwandelte er den Paarlauf zum Kinderweitwurf: Er hatte das zierliche Mädchen, 12 Jahre alt, 1,37 Meter klein und 27 Kilo leicht, mit dem hochgewachsenen Sergej Schachrai zusammengespannt, der mit ihr Jojo spielen konnte.

Schuk (Spitzname: Ruck-Zuck-Schuk) setzt sich selber unter Druck wie seine Schüler. Sogar Parteichef Breschnew besuchte ihn beim Training. Doch 1974 trennte sich sein Star Irina Rodnina nach Olympiasieg und je sechs Europa- und Weltmeistertiteln von ihm. Schuk verschwand von der Eisbühne. »Stanislaw ist müde«, erklärte die Rodnina.

Er überstand eine Sperre und eine Entziehungskur. 1983 flog er abermals wegen »ungehörigen Benehmens«, als Irina Rodninas Partner und Ehemann Alexander Saizew Verbandssekretär war. Doch 1984 stand Schuk wieder an der Bande. Sein neues Paar verdrängte die von Irina Rodnina als Trainerin betreute Konkurrenz. Außerdem trainierte er eine neue Medaillen-Kandidatin, Jelena Wodoressowa. Saizew war dagegen zum Eislauf-Obmann bei Dynamo Moskau degradiert worden.

Aber Schuks Medaillen-Aspirant Alexander Fadejew erntete beim Olympia trotz eines vierfachen Sprunges keine Medaille. Der Trend weist zu mehr Harmonie und Originalität, wie sie Fassi einstudiert.

Jutta Müller ist dem Zeitgeist ebenfalls auf der Spur. Sie arbeitet schon an der Mimik ihrer Favoritin Katarina Witt und kann sich vorstellen, daß neben Ballett-Unterricht auch Schauspielstunden das Trainingsprogramm abrunden.

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