OLYMPIA / IOC Dritter Weg
Einige Minuten nach 17 Uhr am Dienstag letzter Woche meldete die sowjetische Nachrichten-Agentur Tass: Moskau richtet die Olympischen Spiele 1976 aus. Doch da begann die Abstimmung erst. Zwei Stunden später siegte Außenseiter Montreal.
»Es ist eine große Ehre, die Olympischen Spiele auszurichten«, meint IOC-Präsident Avery Brundage. Die Umgebung, in der das Internationale Olympische Komitee am sechsten Tag seines Kongresses in Amsterdam endlich die Olympia-Städte der XXI. Olympiade wählte, entsprach der Realität besser: Die Olympier stimmten im Kongreßzentrum ab, in dem sonst Industrielle, Banker und Geschäftsleute ihre Pläne abstimmen, innerhalb des Ausstellungs-Geländes, auf dem die Produzenten den Appetit des Konsumenten-Volkes anregen, etwa durch die Internationale Wassersport-Ausstellung.
»Markt oder Tempel -- ihr habt die Wahl«, hatte der französische Baron Pierre de Coubertin, der 1894 das IOC gründete und die Olympischen Spiele wiederbelebte, in der letzten Rede vor seinem Rücktritt die Athleten gemahnt. Doch über Athleten und Funktionäre hinweg gediehen Olympische Spiele zu einer gigantischen Mustermesse.
Die Ausstellung der Kandidaten-Städte in Amsterdam schilderte die werbeträchtige Gegenwart. Der Schweizer Wintersportort Sion bot nationale Schokolade an, Konkurrent Tampere aus Finnland stellte Körbe mit heimischen Süßigkeiten bereit, am Stand des Rivalen Denver aus den USA prangte ein bedeutsam erhöhtes Olympia-Abzeichen, das laut eingraviertem Text Astronaut John Swigert »mit Stolz« während des Apollo-13-Unternehmens getragen habe. Denver erhielt den Zuschlag für die Winterspiele.
Die Bewerber für die Sommerspiele verteilten Kugelschreiber und Manschettenknöpfe, Anstecknadeln und Mützen, Moskau begnügte sich mit goldenen Manschettenknöpfen für die IOC-Mitglieder.
Dennoch favorisierten die Funktionäre Moskau als ersten Ostblock-Bewerber. »Ein Russe hat schon das IOC mitgegründet«, erinnerte der einem Chruschtschow -- Zwilling gleichende Konstantin Andrianow, IOC-Mitglied aus Moskau. Er meinte den Zaren-General Butowsky. Europäische IOC-Herren argumentierten, daß Europas Athleten sich leichter an Klima und Zeitunterschied (zwei Stunden zur MEZ) anpassen würden als in Montreal (sechs Stunden) oder Los Angeles.
In Südamerika hatten die Sowjets mit dem Versprechen geworben, die Wahl des Mexikaners Jesus José de Clark Flores als Nachfolger von Brundage 1972 zu unterstützen. Aber Moskaus Kandidatur traf zuerst die Genossen in Prag. Die CSSR-Hauptstadt hatte sich bereits für die Spiele 1980 beworben. Nach der Niederlage in Amsterdam sind Moskau, falls es abermals kandidiert, nun die Spiele bei der nächsten Abstimmung sicher. In einer Konferenz mit dem großen Bruder stellte Prag seine Ansprüche zurück.
Los Angeles schickte Werber nach München und Tokio. Sogar in Ekuador drehten die Kalifornier ihre Olympia-Mühlen. Bonanza-Boß Lorne Greene setzten sie als Sprecher in ihrem Propaganda-Film ein. IOC-Gäste -- insgesamt etwa 20 -- betreuten die Amerikaner angemessen: Adligen Besuchern attachierten sie blaublütige Emigranten, Sportfans führten sie mit früheren Olympiasiegern zusammen. Kunstliebhabern ordneten sie Experten zum Fachsimpeln bei.
Den Olympia-Gästen versprachen sie lautlose Elektro-Busse als Transportmittel, den Ruderern eine Flutlicht-Regatta vor 200 000 Zuschauern. Die Boote wollten sie mit fluoreszierendem Lack streichen. Insgesamt eine Million Dollar verpulverte Los Angeles für seine Eigenreklame.
Außerdem winkte die Stadt mit Schecks: Aus den TV-Einnahmen sollten IOC und Fachverbände 42 Millionen Mark erhalten. Ein weiterer Überschuß von ungefähr fünf Millionen Dollar sollte verwendet werden, um die Unterkunft der Mannschaften und möglicherweise sogar ihre Anreise zu finanzieren. »Nein zum Borscht-Zirkus 1976«, polemisierte die »New York Herald Tribune« gegen Moskau.
»Andere wollen die Spiele kaufen«, argwöhnte UdSSR-Vertreter Andrianow. Freilich mußten sich die Sowjets mit zunehmender Kritik auseinandersetzen. »Ihre Dokumentation ist technisch gesehen völlig unzureichend', murrte der Schweizer Thomas Keller, Sprecher der Internationalen Fachverbände. Auf vier Keller-Briefe blieb Moskau stumm.
Die sowjetische Hauptstadt richtete 28 Europa- und Weltmeisterschaften aus. Dabei führte die Planwirtschaft häufig zu Pannen: Die Gäste verloren unzumutbar viel Zeit beim Warten auf den Hotel-Fahrstuhl oder im Hotel-Restaurant. Telephon- und Fernschreibverbindungen kamen oft erst nach Stunden zustande. Kritik empfanden die Sowjet-Planer freilich als Kränkung. Olympia-Funktionär Wladimir Sawwin unterstellte: »Unsere Feinde fahren aus der Haut und wollen auch mit unfairen Mitteln Moskaus Wahl vereiteln.«
Als britische Journalisten bei der Presse-Konferenz der Moskauer Delegation in Amsterdam nach ihren Arbeitsmöglichkeiten im Falle eines Moskauer Wahlsieges fragten, wich Andrianow aus: »Ein Land, das Sputniks in den Himmel schießt, wird auch Telephonleitungen herstellen können.«
Abrupt beendeten die Russen ihre Fragestunde. Auf PR-Bemühungen verzichteten sie, »Moskau hat das größte moralische Recht auf die Spiele«, erklärte Moskaus Stadtsowjet-Vorsitzender Wladimir Promyslow seinen Standpunkt.
Mehr und mehr scheuten die IOC-Herren vor der anstehenden Ost-West-Entscheidung zurück und faßten den dritten Weg ins Auge. Außenseiter Montreal hatte sich bereits sechsmal als Kandidat gemeldet und war jedesmal durchgefallen, zuletzt gegen München. Zudem intrigierten die Lobbyisten der kanadischen Stadt Vancouver. Ihre Bewerbung für die Winterspiele 1976 hatte nur Aussicht, falls Montreal die Sommerspiele nicht zufielen.
Vancouver verbreitete eine Brief-Kopie, aus der hervorging, daß Montreal vor der Pleite stünde und nicht auf Unterstützung der Regierung zählen dürfe. Ministerpräsident Pierre Elliot Trudeau dementierte sofort.
Im ersten Wahlgang fiel Los Angeles durch. Nun erinnerten sich die IOC-Herren an Montreals angemessene und sachliche Werbung. Kanada nahm seit 1904 an Olympis en Spielen teil, hat keine außenpolitischen Probleme und ist zweisprachig (englisch, französisch). Im siebten Anlauf siegten die Kanadier mit 41:28 Stimmen gegen Moskau. Montreals Bürgermeister Jean Drapeau: »Wir wollen einfache, aber würdige Spiele.«
Zweieinhalb Stunden bastelten die Sowjets an einer Stellungnahme. Dann hatten sie die kapitalistische Verschwörung entlarvt. »Die westlichen Länder«, verkündeten sie ohne Diskussion, »betrachten die Olympischen Spiele als ihr Privileg.«