Echter Ackermann
In den wichtigsten olympischen Sportarten sind die Montreal-Medaillen fest gebucht: Die Leichtathletinnen und Schwimmerinnen der DDR werden dem Rest der Welt allenfalls eine Handvoll Gold überlassen -- falls nicht eine Seuche sie vorher heimsucht.
»Die DDR-Mädchen können tatsächlich alle Goldmedaillen gewinnen«, resignierte US-Schwimmtrainer James Counsilman schon vor den amerikanischen Qualifikations-Kämpfen. Bei ihren Meisterschaften Anfang Juni stürzten die DDR-Teenager 17 Weltrekorde. Das Ost-Berliner »Sportecho« meldete den »stolzen Fakt, daß wir erstmals im Besitz aller Damen-Welthöchstmarken sind«.
Mit sechs Weltrekorden trumpften die DDR-Leichtathletinnen in der Olympia-Saison auf. In zehn von 14 Disziplinen rückte die DDR an die Spitze der Weltranglisten.
Mit ihrem Hochsprung-Weltrekord (1,96 Meter) hätte Rosemarie Ackermann noch 1928 den Olympiasieger der Männer (1,94 Meter) übertroffen. Der Weltrekordlerin im 400-Meter-Kraulschwimmen, Barbara Krause, hätte ihre Leistung 1968 zu einer Silbermedaille im Männer-Finale gereicht.
Außerdem nimmt die DDR das erste olympische Frauenhandball-Turnier als Weltmeister auf. Bei den vorigen Ruder-Weltmeisterschaften ließen die DDR-Mädchen in sechs Rennen nur einen Sieg aus -- da wurden sie Zweite. Bei der Kanu-WM 1975 fielen alle drei Titel an DDR-Sportlerinnen.
Fast unbemerkt hat sich im DDR-Sport ein Umbruch vollzogen. »Die Breite ist bei den Burschen genauso vorhanden«, rätselte D DR-Cheftrainer Professor Dr. Rudolf Schramme etwa über die Schwimmer. Aber es fehlt an Medaillen-Anwärtern »Wenn wir die Ursachen dafür wüßten«, sagte Schramme, »wäre das schon nicht mehr so.«
Die DDR-Männermannschaft hat im Schwimmen und in der Leichtathletik kaum mehr Medaillen-Chancen als etwa die Bundesrepublik. Handball-Vizeweltmeister DDR scheiterte gar in der Olympia-Qualifikation an der Bundes-Equipe. Im Männersport nehmen die Konkurrenz und die Kenntnisse über planvollen Aufbau ständig zu. Findig waren die DDR-Planer in die wohl letzte, erfolgverheißende. Marktlücke gestoßen: den Frauensport. Er wird bislang nur in wenigen, vorwiegend kommunistischen Staaten ähnlich planvoll und aufwendig vorangetrieben wie der Männersport. Schon in der Schule fischen die Talentfahnder schwimmbegabte Mädchen heraus. Sie berücksichtigen Größe, Gewicht und sogar die Maße der Eltern und rechnen daraus die voraussichtliche Entwicklung der Kinder im Sport hoch. Die aussichtsreichsten Mädchen gelangen in Kinder- und Jugend-Sportschulen (KJS).
In der Schwimmer-Klasse der Dresdner KJS »Artur Becker« lernen etwa die beiden Weltrekordlerinnen Birgit Treiber, 16, und Ulrike Richter, 17, gemeinsam. Disziplinarische Probleme tauchen in der DDR kaum auf. Wer grob gegen die strenge Ordnung verstößt, scheidet aus dem privilegierten Kreis aus.
Der Arbeiter-und-Bauern-Staat erwartet von seinen Sportstars, daß sie sein Ansehen durch Medaillen und Rekorde nach außen festigen und das System durch musterhaftes Verhalten nach innen stützen. Bevor sie zu ihren Rekord-Meisterschaften reisten, suchten etwa Birgit Treiber und Ulrike Richter ihre Dresdner Patenbrigade »Julius Fucik« -- benannt nach einem ermordeten CSSR-Widerstandskämpfer -- im VEB Elektromat auf. »Diese Zusammenkünfte klingen in der Regel mit Verpflichtungen aus«, erläuterte das »Sportecho« -- für Sportler und Werktätige.
Paradeschwimmerin der DDR ist Kornelia Ender. Sie stellte insgesamt 16 Weltrekorde auf, fünf davon während der DDR-Meisterschaften. In Montreal hat sie Chancen auf fünf Goldmedaillen. 1975 wurde sie von der Internationalen Sportpresse zur Sportlerin des Jahres gewählt, in der DDR ist sie seit 1973 beliebteste Athletin.
Soviel Popularität zieht in der DDR besondere gesellschaftliche Verpflichtungen nach sich. So ließ sie denn bei offiziellen Anlässen keine der üblichen Beschwörungsformeln aus vom Dank an die Arbeiterklasse über »hohe Ergebnisse zum Ruhme der DDR«, wie könnte es anders sein, »an der Seite der Sportler der Sowjet-Union«.
Die sicherste DDR-Favoritin in der Leichtathletik, Hochsprung-Weltrekordlerin Rosemarie Ackermann, versprach, »im Beruf und in der gesellschaftlichen Arbeit als FDJ-Sekretär ein echter »Ackermann zu sein
Auf eine DDR-Version des Fräulein-Wunders geht die sportliche Entfaltung nur bedingt zurück: Am liebsten sehen Funktionäre und Trainer ihre Top-Sportlerinnen möglichst früh verheiratet. Frühehen halten sie offenbar für die glatteste Lösung von Sex-Problemen. Sogar unter den Weltrekord-Teens im Schwimmen befindet sich schon eine Ehefrau: Die Weltrekordlerin im Delphinschwimmen, Rosemarie Gabriel, heiratete mit 19 Jahren. Kornelia Ender, 17, will nach Montreal den DDR-Rückenweltrekordler Roland Matthes ehelichen.
Viele Frauen-Trainer haben erfahren, daß sich bei Sportlerinnen durch eine Ehe die meisten persönlichen Schwierigkeiten auflösten, daß sie sich ausgeglichener verhielten als vorher und sich besser auf Höchstleistungen konzentrierten. So sind die erfolgreichsten DDR-Leichtathletinnen verheiratet, etwa die Doppel-Olympiasiegerin im Sprint, Renate Stecher, die Hürden-Olympiasiegerin Annelie Ehrhardt, Hochsprung-Weltrekordlerin Ackermann und die Weitsprung-Favoritin Sigrun Siegl.
Kritiker und Neider haben die beispiellosen Sporterfolge der DDR mit Doping, Elektroschocks zur Anregung der Muskeln oder Transfusionen aus eigenem, vorher abgezapftem Blut erklärt. Blutaufstockung soll angeblich höhere Sauerstoff-Aufnahme gewährleisten.
Dabei bedürfen die Leistungen der besten DDR-Sportlerinnen keiner chemischen Analyse. Zuerst hatte die UdSSR gängige Vorurteile widerlegt, wie sie in vielen Ländern unverdrossen geglaubt werden: Frauen seien weniger belastbar; Leistungssport beeinträchtige ihre weiblichen Eigenschaften.
In der DDR sind die sowjetischen Erkenntnisse weiterentwickelt und nahezu perfekt in die Sportpraxis umgesetzt worden. Sportärzte überwachen täglich jede Hochleistungssportlerin. In keinem Land trainieren Mädchen und Frauen systematischer und härter als in der DDR.
»Jungen und Mädchen sind meist in denselben Trainingsgruppen«, erklärte Cheftrainer Schramme über die Schwimmerinnen. »Sie leisten dasselbe Trainingsprogramm.« So ergäbe sich »ein gewisser Vorsprung gegenüber einigen Ländern, die glauben, man dürfe Mädchen nicht gleich belasten«.
In der DDR schwimmen Mädchen von zehn Jahren schon täglich vier Stunden und pro Jahr etwa 1000 Kilometer, später im Höchstleistungsalter bis zu 2500 Kilometer jährlich. Die Olympia-Favoritinnen der DDR haben also bis zum Start in Montreal wenigstens 10 000 Trainingskilometer zurückgelegt, ungefähr die Entfernung von Grönland bis Rio, ihre Konkurrentinnen aus anderen Ländern ein Drittel davon oder höchstens halb soviel.
Aber die DDR-Sportlerinnen nehmen gleichsam nicht nur einen kräftigeren Anlauf, sie verfügen oft auch im Wettkampf über die besseren Nerven. Denn im eigenen Lande bedrängt sie die stärkste Konkurrenz. Zu den zehn schnellsten 400-Meter-Läuferinnen der Welt zählen acht aus der DDR. Nur drei von ihnen dürfen beim Olympia starten. Deshalb fiel den Läuferinnen die Olympia-Qualifikation in der DDR schwerer, als ein Medaillen-Platz in Montreal wohl an Mühe kosten wird.
Vor allem die Vor-Leistungen der DDR-Sportamazonen trieben die Voraussagen der Experten bis auf 80 Medaillen für die DDR hoch. Der Tip könnte nur verwirklicht werden, wenn die DDR-Frauen 50 bis 60 Plaketten beisteuerten. In München hatten die Männer noch 37 der 66 DDR-Medaillen erkämpft.
Unrealistisch scheint die Prognose dennoch nicht. Trotz der Weltrekordflut, meinte Cheftrainer Schramme, »glauben wir, daß weitere Verbesserungen möglich sind«.