LEICHTATHLETIK Einblick ins Gruselkabinett
In den Tagen vor Weihnachten arbeiteten Kripo-Beamte am Berliner Columbiadamm 4 bis tief in die Nacht. Grund der Betriebsamkeit in der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Zerv), die auch Unrechtstaten des DDR-Sports aufzuklären versucht, war einerseits das Jahresende: Die Behörde befürchtet, daß nach dem 31. Dezember viele Delikte verjährt sind.
Auf der anderen Seite hatten die emsigen Staatsdiener in den vergangenen Monaten durch Zeugenaussagen und das Auftauchen neuer Dokumente eine gewaltige Informationsmenge zu verarbeiten, die tiefe Einblicke in das Gruselkabinett des DDR-Sports erlaubten. Ermittelt wird nun unter anderem wegen Todesfällen, lebensbedrohlichen Lebererkrankungen, hormonabhängigem Brustkrebs, Sterilisation.
Nachdem vor einigen Wochen die Zerv-Recherchen dazu geführt hatten, daß der Schwimm-Verband Bundestrainer wegen ihrer Doping-Vergangenheit entließ, wird nun vor allem der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) mit skrupellosen Taten seines Personals konfrontiert.
Die bizarrste Geschichte erzählte den Ermittlern der Berliner Andreas Krieger, der 1986 als Heidi Krieger Europameisterin geworden war. Jetzt prüft die Zerv, inwieweit die Geschlechtsumwandlung von einer muskelbepackten Werferin zu einem ansehnlichen Mannsbild mit den extrem hohen Dosen Anabolika in Zusammenhang steht, die Krieger als Kugelstoßerin beim SC Dynamo Berlin bekommen hatte.
Zwei Betreuer werden womöglich vor Gericht zur Verantwortung gezogen, beide haben nach der Wende Karriere gemacht: Trainer Lutz Kühl, der sich heute unter anderen um die Speerwurfmeisterin Tanja Damaske kümmert, und Sportarzt Joachim Wendler, dessen Vertrag am Berliner Olympiastützpunkt Anfang des Jahres erneut verlängert wurde.
Die Zerv hat ihre Ermittlungen auf weitere prominente DLV-Trainer ausgedehnt:
* Maria Ritschel, Trainerin von Speerwurf-Olympiasiegerin Silke Renk, wird von ehemaligen Schützlingen belastet;
* Werner Goldmann, Trainer des Kugelstoß-Olympiasiegers Ulf Timmermann, war auch für die Diskus-Weltrekordlerin Irina Meszynski verantwortlich, die eine Jahresdosis von 3190 Milligramm Anabolika schluckte;
* Gerhard Böttcher, Trainer von Diskus-Olympiasiegerin Ilke Wyludda, war für die hochgedopte Kugelstoßerin Helma Knorscheid zuständig.
Bei ihrer Recherche stieß die Kripo jüngst auf eine unermeßliche Fundgrube: zehn Bände mit detaillierten Protokollen aus dem Forschungsbereich einer hochkarätigen Kommission, die direkt vom Zentralkomitee der SED zur Medaillenproduktion eingesetzt worden war. In den Akten fanden sich Beweise für Dopingfälle, besonders aber auch Belege für Verantwortlichkeiten auf Verbandsebene, in Forschung und Politik.
Bei der Fahndung nach Leitungskräften für das Staatsdoping stießen die Ermittler auf das Protokoll einer Sitzung zur »Themennomenklatur u.M./ Staatsplanthema 14.25« am 6. Februar 1986: Als Verantwortlicher für »bestehende Gruppen« in diesem Forschungsbereich taucht dort etwa Günter Baumgart auf, ein Trainingsmethodiker, der nun sein Auskommen beim Württembergischen Schwimm-Verband genießt.
Die Ärztin Gudrun Fröhner, die jetzt für den Deutschen Turner-Bund tätig ist, muß wegen der aufgetauchten Organigramme ebenso mit einem Ermittlungsverfahren rechnen wie Professor Manfred Reiß, der heute die deutschen Ausdauersportler berät.
Für den DLV ist besonders schmerzlich, daß ausgerechnet Bernd Schubert, zur DDR-Zeit zuständiger Trainer für den Bereich »Leichtathletik Sprung«, auf der Liste der Dopingspezialisten steht. Der leitende DLV-Trainer aus Chemnitz gilt den Funktionären wegen seines Organisationstalents als unverzichtbar.
Schon einmal war Schubert knapp einer Entlassung entgangen. In einem Prozeß gegen die Dopingenthüllerin Brigitte Berendonk hatte er erklärt, »niemals Doping-Konzepte« erstellt zu haben. Das Gericht hielt das für »völlig unglaubwürdig« und verurteilte ihn wegen Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung zu einer Strafe von 9000 Mark.
Wegen ähnlicher Vorwürfe, wie sie Schubert nun gemacht werden, hatte sein Kollege Ekkart Arbeit - zuständig für »Leichtathletik Wurf/Stoß« - jüngst in Australien seinen Job als Landestrainer verloren.