Er kann alles
In Köln schob Eishockey-Stürmer Dick Decloe die Scheibe dem Torwart zwischen den Füßen hindurch ins Netz. In Bad Nauheim wuchtete er mit dem Rücken zum Tor stehend das Hartgummi-Plätzchen ins Ziel. In einem Krefelder Heimspiel des Eislaufvereins lenkte er einmal einen Puck, der noch durch die Luft flog, ins Tor.
»Der schlägt ja »ne Fliege im Sturzflug tot«, jammerte Kölns Torwart Axel Richter und suchte in seinem Kasten nach der Scheibe. Dick Decloe, 23, verriet: »Die liegt unter deinem Hintern.« Trainer Otto Schneitberger vom Krefelder Eislaufverein (KEV) behauptet: »Hätte ich zwei oder drei Decloes, dann würden wir bestimmt Deutscher Meister werden.«
Der eine Decloe brachte Schneitbergers KEV in diesem Winter überraschend an die Tabellenspitze der Eishockey-Bundesliga vor den Favoriten-Teams aus Köln, Berlin und Düsseldorf. Mit mehr als 40 Treffern führt Decloe auch die Liste der Torschützen an -- wie schon in den vergangenen beiden Meisterschaften. 1975 stellte er mit 61 Treffern in einer Spielzeit den noch gültigen Torrekord auf. »Durchaus möglich, daß er nur von Decloe selbst zu brechen ist«, sagt Bundestrainer Xaver Unsinn.
In Deutschlands Nationalmannschaft kann er Decloe nicht aufstellen -der KEV-Stürmer besitzt die holländische Staatsbürgerschaft. Geboren in Amsterdam, wuchs er in Kanada auf. In Mississauga bei Toronto hatten Decloes Eltern einen florierenden Baubetrieb eröffnet. Der Sohn spielte vom sechsten Lebensjahr an Eishockey. Des Studiums wegen -- Betriebswirtschaft -- kehrte er nach Holland zurück und spielte für den RAK Den Haag und in Hollands Nationalmannschaft.
Eines Tages lösten die Vereinsoberen den verschuldeten Decloe-Klub auf und verkauften die besten Spieler nach Kanada und in die USA. Decloe lehnte ab. »Wenn der Verein pleite ist, bin ich noch lange nicht bankrott.« Er besaß schon ein Angebot vom Krefelder EV.
In der Bundesrepublik hatten Großstadtklubs das einst vorwiegend auf bayrischen Dorfweihern mit Stock und Knochenklein betriebene Eishockey zum abendfüllenden Modespiel entwickelt. Die Düsseldorfer Eislaufgemeinschaft, der Berliner Schlittschuhclub oder der Kölner EC arbeiteten mit wachsenden Millionen-Etats, jährlich kauften sie für mehr als eine Million Mark neue Spieler. Der Krefelder EV hatte beim Spieler-Großhandel nie mithalten können -- bis Decloe kam.
»So billig haben wir noch nie einen Spieler bekommen«, berichtet KEV-Geschäftsführer Erich Frank. »Weil sein Klub nicht mehr existierte, zahlten wir nur noch den Umzug von Holland.«
Ansonsten kosten in der Bundesliga Spieler wie Decloe, 1,91 Meter groß und in voller Montur nahezu zwei Zentner schwer, mindestens 300 000 Mark Ablöse. Für »Schweinchen Dick«, so die KEV-Fans, zahlen Mäzene des KEV, der nur einmal, 1952, Deutscher Meister gewesen ist, ein Monatssalär von etwa 2000 Mark.
Inzwischen wollten die größeren Klubs in Düsseldorf und Köln für den Star bis zu 500 000 Mark an den KEV zahlen, dazu ein gutes Handgeld für Decloe. Doch Decloe will nicht eines Tages auch noch »Scheinchen Dick« gerufen werden. »In Krefeld ist alles viel gemütlicher«, erklärt er. »Es stört mich nicht, daß unsere Halle alt und das Eis zu weich ist, hier bin ich König.« Und »zehn Tore« findet der ledige Torjäger »schöner als eine Braut.«
Decloes Sonderstellung beim KEV vermochte in der letzten Saison nicht einmal der schwedische Weltklassespieler Stefan Karlsson anzutasten. Nach einer Spielzeit, Decloe hatte auch mehr Tore als der Schwede geschossen, kehrte Karlsson nach Schweden zurück. Nun warb der KEV den früheren CSSR-Star Petr Hejma, 32, an, der in Düsseldorf aus Altersgründen keinen Vertrag mehr erhalten hatte.
KEV-Trainer Otto Schneitberger, 37, früher selbst Verteidiger bei der Düsseldorfer EG und ebenfalls im Groll geschieden, nahm Hejma gerne auf. »Er spielt unseren Decloe, der jetzt immer von zwei Verteidigern bewacht wird, noch besser frei.«
Außerdem besitzt Hejma die deutsche Staatsangehörigkeit. In der Bundesliga darf jede Mannschaft jeweils nur zwei Ausländer in einem Spiel einsetzen. Von den knapp 200 Bundesligaspielern sind nahezu 30 Ausländer. Neu-Inländer Hejma über Ausländer Decloe: »Er kann alles.«
Tatsächlich glänzt Decloe nicht nur als Torschütze, sondern er hilft auch stets in der eigenen Abwehr aus oder unterstützt Hejma beim Aufbau eigener Angriffe. Trainer Schneitberger. der noch selbst für Düsseldorf gegen Krefelds Decloe gespielt hatte, erinnert sich: »Der fiel auf nichts rein, weder auf Beschimpfungen noch auf Rippenstöße.«
Decloe spürt auch, daß »deutsches Eishockey immer härter« wird: »O weh, manchmal hauen sie auf mich ein wie auf eine arme Robbe.« Gleichzeitig aber fügt er hinzu: »Muß sein, macht Spiel besser.«
Ähnlich wie im Fußball verzeichnet auch die Eishockey-Bundesliga steigendes Zuschauerinteresse. Zur Saison 1975/76 kamen 859 000 Zuschauer zu insgesamt 180 Spielen -- etwa 20 Prozent mehr als im Winter zuvor. Krefelds Rheinlandhalle, einst als Kühlhaus vorgesehen, faßt nur 5200 Zuschauer. »Zur Zeit könnten wir auch 15 000 Karten verkaufen«, glaubt Geschäftsführer Frank.
»Mit Dick kam das Glück«, reimte das »Kicker-Sportmagazin« über Krefelds Eisheiligen. Nachdem es fast sicher ist, daß der KEV auch die Endrunde der sechs besten Mannschaften um die Deutsche Meisterschaft (ab Februar 1977) erreichen wird, winkt dem Klub eine Rekordeinnahme: mehr als eine Million Mark in der ganzen Saison.
»Ich kann es noch immer nicht fassen, daß uns so einer wie der Decloe zugelaufen ist«, staunt KEV-Mannschaftskapitän Lothar Kremershof. »Der läuft Schlittschuh wie ein Olympiasieger im Eiskunstlauf, und seine Stocktechnik ist Weltklasse.«
Tatsächlich balanciert Decloe auch in voller Fahrt die Scheibe kunstvoll, trickreich und reaktionsschnell. Zwei, manchmal drei Abwehrspieler täuscht er, indem er den Stock ständig rechts und links, vor und hinter der Scheibe aufs Eis stampft.
Nur einen Fehler hat Decloe: Er muß zu oft auf die Strafbank. »Zwei Minuten ohne ihn sind so schlimm wie ein Gegentor«. murrt Trainer Schneitberger. In 26 Spielen dieser Saison kassierte der KEV 90 Gegentore -- 16 mehr als der Verfolger Köln. Decloe entschuldigt seine Schlagfertigkeit: »Manchmal denke ich, bin ich in Kanada. da ist mehr erlaubt.«