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»Es werden Wunder geschehen«

Die illegalen medizinischen Experimente haben der Bewunderung für das Sportsystem der ehemaligen DDR keinen Abbruch getan. Viele Nationen versprechen sich gerade vom Geheimwissen der Manipulateure sportliche Erfolge. So wurden die ostdeutschen Wissenschaftler und Trainer zum weltweiten Exportschlager.
aus DER SPIEGEL 41/1991

Neben dem grauen Plattenbau sind ausrangierte Schreibtische und Radios zu einem Müllberg aufgehäuft. In der Eingangshalle versperren alte Regale und Schränke den Weg. Auf dem schwarzen Brett lädt ein Zettel zum Vortrag: »Was ich über Steuern wissen muß«.

Das einst geheime Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig, in das nur nach einer strengen Personenkontrolle Einlaß gewährt wurde, ist nun ein Bürohaus wie viele andere. Das Bafög-Amt hat sich in den verlassenen Fluren ebenso niedergelassen wie das Druckhaus Pink Voss oder der Gerling-Versicherungskonzern.

Nur wenige der ehemals über 600 FKS-Angestellten wurden weiterbeschäftigt. Die Labors und Studierstuben, in denen zum Ruhm des Sozialismus mit »verbrecherischen Methoden«, so der Leipziger Neurophysiologe Lothar Pickenhain, »an der Manipulation von Menschen« gearbeitet wurde, sind verwaist. Das FKS befindet sich seit neun Monaten »in der Abwicklung«.

Doch das Gedankengut der Manipulateure lebt weiter, hat sich wie eine Seuche ausgebreitet. Ärzte, Wissenschaftler und Trainer aus der Ex-DDR, deren Rüstzeug die Leipziger Geheimforschung war, arbeiten mittlerweile überall in der Welt. »Gleich nach der Wende gab es am FKS einen Besucher-Boom aus dem In- und Ausland«, berichtet der Ingenieur Heiner Schumann, jeder habe das »Wunder des DDR-Sports« sehen wollen.

Doch in den technisch veralteten Anlagen war das Mysterium nicht zu finden. Als der eilig gegründete Betriebsrat die Geheimstudien sichern wollte, mußte er feststellen, daß alle brisanten Unterlagen verschwunden waren. Der Reißwolf hatte, so Pickenhain, »säckeweise Abfall« produziert. In der Konkursmasse blieben nur die einstigen Geheimnisträger unter den rund 12 000 Sport-Fachleuten der ehemaligen DDR. Und die wurden zu einem weltweiten Exportschlager.

Allein in Österreich arbeiten fast drei Dutzend Experten aus dem sportlichen Musterland. Darunter waren mit Rainer Mund (Eisschnellauf), Hans Eckstein (Rudern), Rüdiger Helm (Kanu) und Werner Trelenberg (Leichtathletik) allein vier ehemalige Cheftrainer der DDR, die an maßgeblichen Stellen des flächendeckenden Doping-Systems saßen.

Kritik an den vorschnellen Ost-Importen verhallt ungehört. »So einer wie der dürfte hier nicht unterkommen«, beschwerte sich die ehemalige DDR-Schwimmerin Christiane Sommer-Knacke vergebens, als sie von der Einstellung des ostdeutschen Trainers Rolf Gläser im Linzer Sportzentrum erfuhr. Gläser habe ihr, so die Ex-Weltrekordlerin, die vor drei Jahren nach Österreich ausreisen durfte, eigenhändig die Anabolika-Pillen verabreicht.

Die bisher eher drittklassige Sportnation Österreich verspricht sich spektakuläre Erfolge von den sozialistisch geschulten Fachleuten. »Bis 1992 wird es bei uns zwar kaum spürbare Verbesserungen geben«, kündigt Kurt Kucera, der Vorsitzende des österreichischen Spitzensportausschusses, an, »danach geschehen sicherlich einige Wunder.«

Die DDR-Emigranten erfahren schnell, daß die nationalen Interessen anderer Länder das gleiche verlangen wie einst der SED-Staat: Siege um jeden Preis. Vor der Weltmeisterschaft in Tokio berichtete Heinz Kadow, der ehemalige Generalsekretär des DDR-Leichtathletikverbandes, der nun die Springer, Werfer und Läufer aus Südkorea stark macht, seinen Landsleuten stolz: »Die wollen es so haben, wie wir es in der DDR gemacht haben.«

Bei internationalen Großereignissen sind in einigen Sportarten bereits mehr ehemalige DDR-Trainer für ausländische als für deutsche Athleten verantwortlich. Ruderer aus Frankreich, Australien, Belgien, England und den USA setzen auf ostdeutsche Entwicklungshilfe, Professor Theodor Körner, der erfolgreichste Rudertrainer der Welt, arbeitet inzwischen in Italien. Turn-Trainer aus der DDR wirken in Brasilien und Japan, die Olympiasiegerin Maxi Gnauck wechselte wie zwei Kollegen zuvor nach Südafrika. Die ehemaligen Cheftrainer Dieter Hofmann und Werner Pöhland fanden Arbeit in der Schweiz.

Viele DDR-Autoritäten, vor allem aus der Leichtathletik, wollen ihnen noch folgen. Thomas Springstein, Trainer der Doppel-Weltmeisterin Katrin Krabbe, droht den Funktionären, die seine finanziellen Forderungen nicht erfüllen wollen, mit einem Umzug in die USA oder nach Australien. Karl Hellmann, langjähriger Betreuer der Speerwurf-Olympiasiegerin Petra Felke, will sich absetzen, wenn die Doping-Verdächtigungen im eigenen Land nicht aufhören.

Für alle, die sich einst der so harmlos klingenden »Unterstützenden Mittel« bedienten, wird es im vereinigten Deutschland zunehmend ungemütlicher: *___Gegen Dopingforscher wie Hartmut Riedel und Günter ____Rademacher wird bei der Berliner Staatsanwaltschaft ____wegen des Verdachts auf Körperverletzung (Aktenzeichen ____5 J VJS 3115) ermittelt. *___36 vom Deutschen Leichtathletik-Verband eingestellte ____Trainer müssen mit der Auflösung ihres Vertrages ____rechnen. *___Der Leipziger Gewichtheber-Arzt Hans-Henning Lathan, ____der öffentlich bekannte, Athleten manipuliert zu haben, ____bekam Morddrohungen. *___Der Deutsche Sportbund überlegt, die Gauck-Behörde ____einzuschalten, um etwaige Stasi-Altlasten aufzuklären.

Nicht einmal eine Namensänderung garantiert Ruhe vor Nachforschungen. Beim SC Charlottenburg Berlin arbeitet seit einem Jahr der Übungsleiter Thomas Prochnow, und niemand ahnte, daß er einer der profundesten Dopingexperten der DDR war: 1988 hat er mit einer Doktorarbeit über den Anabolikaeinsatz im Mittel- und Langstreckenlauf promoviert. Damals hieß der Doktor noch Thomas Ferkl.

Als Ziel vieler Berufswünsche gilt derzeit China, das mit sportlichen Erfolgen Imagewerbung betreiben möchte. In Peking dürfen sich die DDR-Experten in die Honecker-Zeit zurückversetzt fühlen. Die Leistungssportler sind alle in der Tijuguan-Straße kaserniert, die durch zwei Zivil-Kontrollen hermetisch abgeriegelt ist. Das Haus, in dem die Sportmediziner untergebracht sind, wird durch einen dritten Posten gesichert.

Dort kann unbeobachtet geforscht werden. Mit Erfolg: Im Januar wurde die erst zwölf Jahre alte Fu Mingxia jüngste Weltmeisterin im Turmspringen. Und seitdem die »phänomenalen Chinesinnen« (Süddeutsche Zeitung) auch im Schwimmen, im Gewichtheben und in der Leichathletik innerhalb kürzester Zeit in die Weltspitze vordrangen, gilt China als Doping-Eldorado.

Schon fühlen sich Athleten gegen das anabole Aufrüstungsprogramm der Asiaten, die als einzige große Sportnation neben den Kubanern die Doping-Charta der Unesco nicht unterzeichnet haben, machtlos. »Soll ich ihr an die Gurgel gehen?« fragte die deutsche Kugelstoßerin Stephanie Storp resigniert, als die Chinesin Huang Zhishong bei der Weltmeisterschaft in Tokio über einen halben Meter weiter stieß als ihre Konkurrentinnen.

Als Dopingsünder wurden bisher nur die Kugelstoßerin Sui Xinmei und die 800-Meter-Läuferin Sun Suimei erwischt. Seit Dezember 1989 arbeitet in Peking ein neues Dopinglabor, und chinesische Trainer lassen schon mal durchblicken, daß »jetzt keiner mehr auffällt«. Schon vor der Wende in Deutschland waren die Chinesen detailliert über die Arbeitsweise einer geheimen Unterdruckkammer in der Sportschule Kienbaum informiert, in der DDR-Athleten Höhentraining simulierten. Jetzt schützt sie ihr Wissen über das perfekte System von Ausreisekontrollen, das in der DDR erfunden wurde, vor der Enttarnung der manipulierten Sportler.

In China wie in anderen sozialistischen Ländern gilt Doping auch weiterhin als Kavaliersdelikt. »Ich weiß gar nicht, warum ihr in Deutschland soviel Wirbel darum macht«, wunderte sich bei der Gewichtheber-Weltmeisterschaft in Donaueschingen der sowjetische Ex-Weltrekordler und Cheftrainer Wassilij Alexejew. Doping sei doch »nur ein kleines Problem«.

Das Idol des UdSSR-Sports sprach im Namen vieler: Bei einer Befragung von 240 sowjetischen Spitzensportlern hielten 44 Prozent Doping für »notwendig oder sogar unvermeidbar«.

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