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KURZSTRECKENLAUF Faust im Nacken

aus DER SPIEGEL 47/1964

Er läuft unrationell wie ein Anfänger. Seine Füße zeigen beim Laufen einwärts, und mit den Dornen seiner Nagelschuhe schlitzte er sich schon mehrfach die eigenen Waden auf. So wurde er Weltrekordler und Olympiasieger: der schwarze US-Sprinter Robert Hayes, 21.

»Wenn ein Mensch in der nächsten Zeit die 100 Meter unter zehn Sekunden läuft - dann nur er«, prophezeite Jesse Owens, vierfacher Olympiasieger von 1936, seinem Nachfolger Hayes. Bei seinem Olympiasieg in Tokio stellte Hayes den 100-Meter-Weltrekord mit zehn Sekunden ein. Als Schlußläufer der siegreichen US-Staffel beendete er auch das 4 X 100-Meter-Rennen in Weltrekordzeit (39,0 Sekunden).

Hayes ist im Kurzstreckenlauf ein Sonderfall. Er ist weder unter die trittschnell mit kürzeren Schritten über die Bahn stampfenden Sprinter einzuordnen, zu denen die Fachleute etwa den ehemaligen deutschen Weltrekordler Heinz Fütterer rechnen. Noch weniger gehört er zu dem in längeren Sätzen scheinbar dahingleitenden Typ wie Olympiasieger Armin Hary (1960).

Unorthodoxer als Hayes wuchtete noch kein Weltklasse-Sprinter über die Aschenbahn. »Er pendelt mit dem Kopf und rollt die Schultern«, schrieb das US-Nachrichtenmagazin »Time«. »Er läuft wie mit einem Ball unter dem Arm.«

Während der Leichtathletik-Pause läuft Hayes wirklich mit einem Ball unter dem Arm. Er spielt für seine Florida-Universität Football - die amerikanische, überharte Variante des Rugbys. Hayes hat es aufgegeben, Stil in seine unkoordinierten Lauf-Bewegungen zu bringen. »Nach der Football-Saison werden alle Fehler wieder dasein«, resignierte er.

Die Hayes-Trainer beschränken sich denn auch auf den Versuch, eine heilbare Schwäche ihres Läufers auszumerzen: den miserablen Start, durch den Hayes in der Regel eine oder zwei Zehntelsekunden gegenüber den Konkurrenten einbüßt. Die meisten Hayes -Rennen gleichen einem ungewollten Vorgabelauf.

»Mit einem flüssigen Start kann er die 100 Yards in 8,9 Sekunden laufen«, urteilte Trainer Richard Hill. Der Hayes -Weltrekord auf dieser Distanz steht auf 9,1 Sekunden.

Der bullige Hayes braucht wegen seines hohen Körpergewichts von 92 Kilogramm besonders lange, um aus der Ruhestellung in schnellen Lauf überzuwechseln. Aber dank seiner ungewöhnlichen Kraft kann er sein Tempo dann bis ins Ziel beschleunigen. Die meisten Sprinter verlieren dagegen auf den letzten Metern schon wieder an Geschwindigkeit.

Seit 1962 wurde Hayes zum Alptraum aller Sprinter. »Er saß mir wie die Faust im Nacken«, berichtete der deutsche Sprintermeister Alfred Hebauf, den Hayes beim Länderkampf Deutschland gegen die USA 1963 trotz eines deutschen Drei-Meter-Vorsprunges als Schlußläufer der 4 X 100-Meter-Staffel noch überrollt hatte.

Ein Alptraum für Sprint-Ästheten wird Hayes jedoch nur noch für eine Saison bleiben. Er hat bereits Angebote, für die Profi-Klubs »Denver Broncos« oder die »Dallas Cowboys« Football zu spielen. Bezahlung: 50 000 Mark Handgeld, 50 000 Mark Jahresgehalt.

Vorher möchte Hayes nur noch den 100-Meter-Weltrekord von 10,0 Sekunden unterbieten. Denn vor ihm erreichten diese Zeit schon der Deutsche Armin Hary, der Kanadier Harry Jerome und Horacio Esteves aus Venezuela. Ob er den Weltrekord bricht, hängt allerdings nicht allein von seiner läuferischen Kraft ab. Statt der metrischen Distanz werden in nicht-olympischen Jahren in den USA Rennen für 100 Yards ausgeschrieben. Hayes richtete daher bereits einen Notruf an die Veranstalter: »Setzt auch 1965 die 100 Meter aufs Programm.«

Weltrekordläufer Hayes

Ball unter dem Arm

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