Leichtathletik Fräulein Unschuld
Warum sagt der Kerl so etwas? Ist er »neidisch«? Oder »nur überheblich«? Melanie Paschke ist wütend: »Was der macht, ist niveaulos.«
Die zierliche Sprinterin kann sich »über die Unverschämtheit« von Lars Riedel nicht beruhigen. Hatte der Diskuswurf-Weltmeister und Aktivensprecher des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) doch tatsächlich behauptet, ihre Leistung sei, im Weltmaßstab betrachtet, gar nichts wert.
Als wenig später Melanie Paschke beim Sportfest in Ingolstadt zur Vorstellung der Spitzenathleten im Fond eines Audi-Cabrios ausgerechnet neben Riedel plaziert wird, kann sich die Deutsche Meisterin über 100 Meter nur mühsam zur Freundlichkeit zwingen. Demonstrativ rückt sie ein Stück von Riedel ab und schaut in die andere Richtung.
Riedel, 27, und Paschke, 24, sind die Antipoden unter den Aktiven des DLV: Während der Chemnitzer der Vollversorgung der DDR-Zeit nachtrauert ("Mir fehlt die Unterstützung"), gilt die Braunschweigerin als Vorzeigeathletin der Nach-Doping-Generation.
Wenn DLV-Präsident Helmut Digel sie zur »personifizierten Sauberkeit« hochjubelt und der Verband sie bei den Deutschen Meisterschaften auf das Titelbild des Programmheftes hebt, registriert sie dies »überrascht«, bisweilen ist es ihr sogar »etwas peinlich«.
Sichtlich leidet die Sprint-Hoffnung darunter, daß an ihrer Person die Richtungskämpfe der deutschen Leichtathletik ausgefochten werden. Während Männer wie Riedel den angeblich »leistungssportfeindlichen« Kurs der neuen Verbandsführung kritisieren, dient Melanie Paschke den Funktionären gerade als Beweis des Gegenteils.
Das Fräulein Unschuld ist der Modellversuch einer gewandelten Leichtathletik: Sport ohne Doping, Kampf um den Sieg statt Rekordjagd. Ziele, die, so wirbt eine DLV-Imagebroschüre schwülstig, die »Neuorientierung zur Humanisierung und ethischen Fundierung des Spitzensports« bedeuten.
Die Europameisterschaften, die am Sonntag in Helsinki beginnen, werden für den DLV und Paschke zum Testlauf. Vier Jahre nach dem triumphalen Aufstieg von Katrin Krabbe mit drei Goldmedaillen bei der EM in Split, muß sich erweisen, ob die Öffentlichkeit sich auch mit Silber oder Bronze zufriedengibt. Die Frage sei, so Sportwissenschaftler Digel, ob die Wirtschaft die saubere Leichtathletik mittrage: »Nicht weil wir die bessere Moral haben, sondern weil der Markt danach verlangt.«
Das Interesse der Sponsoren an ehrenwerten Plazierungen wird bei der EM zum Gradmesser einer ganzen Sportart. Der Nachwuchs drängt schon seit Jahren zum Tennis, wo das große Geld lockt. Die Leichtathletik, für die sich immer weniger Jugendliche quälen wollen, befindet sich, so Cheftrainer Paul Schmidt, »auf rasanter Talfahrt«.
Es müssen Vorbilder her, die zeigen, daß sich Leistung noch lohnt. Wie bei Melanie Paschke, die als Schülerin zum harten Training »oft keine Lust« hatte und doch 1986 Deutsche Jugendmeisterin wurde. Ohne großen Aufwand hielt sie in der nationalen Spitze mit - »mehr wollte ich auch nicht«.
Im Herbst 1992 jedoch habe es bei ihr »geklickt«. Nach einem zweiten Platz im Junioren-Europacup sah sie plötzlich eine internationale Perspektive. Waren die Bundestrainer bisher an ihrem Phlegma ("Die ist zu faul") verzweifelt, vermochte sie sich fortan sogar zu überwinden, »Berge hochzuhetzen, bis ich mich übergeben muß«.
Melanie Paschke verkörpert den neuen Athletentyp, der nüchtern Aufwand und Nutzen abwägt. Derzeit kann sie vom Sport »ganz gut leben«. Sie kassiert Startgelder bis zu 5000 Mark, VW stellt einen Golf, Adidas und das Braunschweiger Blumenhaus Mock unterstützen sie finanziell, für Medienauftritte fordert sie ganz offen Gagen ein.
Sport, so lautet das Leitmotiv der jungen Generation, muß aber auch Spaß bringen. Noch amüsiert es Melanie Paschke, wenn sie auf einem Sportfest wie ein Star angekündigt wird und ihretwegen Bodyguards abgestellt werden. Der totalen Vereinnahmung durch den Leistungssport will sie jedoch unbedingt trotzen: Den Show-Rummel um ihre Vorgängerin Katrin Krabbe hat sie irritiert aus der Distanz wahrgenommen, so als ob »ich Princess Diana beobachte«. Daß sie, statt durch Talk-Shows zu touren, an der Fachhochschule in Wolfenbüttel Versorgungstechnik studiert und eher bieder bis langweilig wirkt, kommt ihr durchaus gelegen.
So ist die Läuferin auch ihrem Heimatverein in Braunschweig treu geblieben. Dort trainiert sie zwar oft allein - ihr Coach aus Sindelfingen schickt die Trainingspläne per Post -, »doch dafür habe ich meine Ruhe«. Um so mehr macht es ihr jetzt »angst«, als Medaillenkandidatin gehandelt zu werden.
Denn auch in Helsinki wird sie der Diskussion um Sinn oder Unsinn einer sauberen Leichtathletik nicht ausweichen können. Irina Priwalowa, die hohe Favoritin über 100 Meter, war im Frühjahr monatelang von der Sportbühne verschwunden. Daß die Russin nach ihrer Rückkehr wie auf Bestellung Europarekord lief, entfachte neue Dopinggerüchte. Nach solchen »Paukenschlägen«, meint resigniert Melanie Paschke, mache man sich »über die schnellen Damen zwangsläufig seine Gedanken«. Y