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FUSSBALL Freche Hunde

Mit selbstbewußten Individualisten schaffte der DDR-Klub Lokomotive Leipzig den Einzug ins Europapokal-Finale. *
aus DER SPIEGEL 20/1987

Am Tresen in der Bremer Stadthalle drohte die ausgelassene Stimmung einen Moment lang zu kippen. »Meine Herren, zwölf Uhr, Zapfenstreich«, bedeutete der Funktionär aus Leipzig seinen drei Fußballern, die mit Werder Bremens Manager Willi Lemke zechten.

Doch die DDR-Nationalspieler Hans Richter, Rene Müller und Uwe Zötzsche parierten keineswegs. »Bloß keine Eile«, entgegneten sie dem verdutzten Aufpasser und feierten ungeniert weiter bis in den frühen Morgen. Lemkes Feststellung »Ihr seid ja richtig freche Hunde« bejahten sie einhellig mit Kopfnicken.

Die »lockeren Genossen«, so Lemke, haben es seit ihrem Auftritt beim Hallen-Fußballturnier des Klassenfeindes im Dezember weit gebracht. Mit Lokomotive Leipzig steht überhaupt erst zum drittenmal ein DDR-Team in einem Europacup-Endspiel. Gegner im Finale der Pokalsieger ist am Mittwoch in Athen Ajax Amsterdam, die Elf des inzwischen auch als Trainer erfolgreichen holländischen Weltklassespielers Johan Cruyff. Der warnte seine Profitruppe vor einer Eigenheit des sozialistischen Kicker-Kollektivs: »Aufpassen, das sind Individualisten.«

Tatsächlich entsprechen zumindest die Sachsen aus Leipzig nicht mehr dem gängigen Klischee des DDR-Fußballers. Die Lok-Spieler sind keineswegs »Automaten, die nur geradeaus laufen können«, wie der polnische Stürmerstar Gregorz Lato einmal abfällig bemerkte. Und auch ihr Auftreten ist längst nicht so weltfremd, wie es Bayern Münchens Torwart Jean-Marie Pfaff beschrieb: »Die sind scheu wie Jungfrauen.«

Davon keine Spur. Selbstbewußt genießt das Kollektiv aus Leipzig seine Rolle als »Paradepferd des DDR-Fußballs« (Lemke), und den erst nach einem Elfmeterschießen errungenen 6:5-Halbfinal-Sieg über Girondins Bordeaux begossen die Spieler ähnlich wie Profis aus dem Westen - mit Sekt. Derweil flippte ganz Leipzig aus. »Die Stadt«, berichteten bundesdeutsche Korrespondenten, »lag im Freudentaumel.«

Verständliche Begeisterung einer an Mißerfolge vor allem ihrer Nationalelf gewöhnten Fangemeinde. Vornehmlich Republikflüchtige, wie der Trainer Jörg Berger oder die ehemaligen Ost-Berliner Dynamo-Spieler Götz und Schlegel, berichteten bislang über Hintergründe der Fußballmisere im Arbeiter-und-Bauern-Staat. So sprach Berger vom »Planungswahnsinn« der Ost-Berliner Sportbürokraten. Götz und Schlegel kritisierten vereinheitlichte Trainingsmethodik und Gleichmacherei. Das Kollektiv gelte alles, der Individualist wenig.

Nach einer Serie von Niederlagen wuchs auch die Kritik in den eigenen Reihen. So notierte das »Neue Deutschland": »Es genügt heute im Fußball nicht, Schußstiefel anzuziehen, man muß auch mit ihnen umgehen können.«

Eine Diskussion über das »Auf und Ab des DDR-Fußballs«, veranstaltet von der »Berliner Zeitung«, nutzte der neue Nationaltrainer Bernd Stange zur Abrechnung mit dem verkrusteten System. »Objektive Ursache« für die anhaltende Fußball-Flaute sei die Konzentration auf die medaillenträchtigen olympischen Sportarten. Bei der Talentsuche rangiere der Fußball erst an sechster Stelle. So sei es kein Wunder, »daß nicht immer das Beste für uns übrigbleibt«.

Tatsächlich fehlt es im DDR-Fußball vor allem an bewegungsbegabten, schnellen und großen Spielern. »Wir«, klagte der Genosse Nationaltrainer, »bekommen immer nur die Kleinen.«

Stanges Wunschvorstellung von einer Mannschaft, deren Kraft zum Sieg nicht allein aus dem Kollektiv kommt, hat sein Kollege Hans-Ulrich Thomale, 42, in Leipzig verwirklicht. Längst gilt der Lok-Stil als vorbildhaft für den gesamten DDR-Fußball. So lobte das Fachblatt »Deutsches Sportecho« die »konzentrierte, energische Abwehrarbeit im Block, große Laufbereitschaft und mutige Zweikampfführung« der Sachsen.

Thomale gilt in der DDR als Coach westlicher Prägung: ehrgeizig, dynamisch und konsequent. Er gehe nur dann zufrieden aus dem Stadion, sagt Thomale, »wenn ich weiß, daß die Mannschaft das gebracht hat, was sie kann«.

Die früher technisch gute, aber zu verspielte Lok-Elf trimmte Thomale in zwei Jahren zu einem homogenen, robusten Team, in dem Individualisten wie Stürmer Hans Richter, der offensive Außenverteidiger Uwe Zötzsche oder Mittelfeldspieler Matthias Liebers ungewöhnlich viele Freiheiten genießen.

Der Star der Mannschaft steht allerdings im Tor: Rene Müller, 28. »Ein absoluter Weltklassemann«, lobt Trainer Thomale den Studenten der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK).

Seit Müller 1985 in die SED eintrat, ist er auch ein Star der Partei. Und im Stile seines Parteiorgans spricht er in Interviews gerne vom »Frieden als kostbarstem Gut«, hält Reagans SDI-Programm für »Wahnsinn« und lobt Gorbatschows bedeutende Abrüstungsinitiative«. Die Wahl zum »Fußballer des Jahres 1986« betrachtete er überdies »als Anreiz, weiter mein Bestes für den DDR-Fußball zu geben«.

Dazu gehört für ihn allerdings auch die Kritik an den real existierenden Verhältnissen. Daß er sich »weniger staatliche Planung im Fußball« wünsche, vertraute Müller Bremens Manager an der Theke an.

Lemkes Angebot, Müller zusammen mit den »frechen Hunden« Richter und Zötzsche für »viel Geld« in die Bundesliga zu holen, lehnte der Torwart allerdings kategorisch ab. Er sei in Leipzig »richtig glücklich«. _(Lindner, Kreer, Liebers und Zötzsche am ) _(22. April nach dem 6:5-Sieg über ) _(Girondins Bordeaux in Leipzig. )

Lindner, Kreer, Liebers und Zötzsche am 22. April nach dem 6:5-Siegüber Girondins Bordeaux in Leipzig.

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