Frust statt Lust
Im Berliner Hotel »Sylter Hof« klingelte bei der Hochspringerin Ulrike Meyfarth das Zimmertelephon. »Sie Flasche«, schimpfte der anonyme Anrufer. Die zweimalige Olympiasiegerin war beim Istaf (Internationales Stadionfest) im Berliner Olympiastadion krankheitsgeschwächt mit 1,85 Meter nur Dritte geworden.
Ulrikes Berliner Flop war kein Einzelfall. Auch andere Top-Stars zeigten Schwächen im nacholympischen Leichtathletik-Zirkus. Doch zur Erholung ist kaum Gelegenheit, die Zeit der Ernte ist kurz: Nur bei einem Dutzend internationalen Sportfesten vom 15. August bis zum 4. September zwischen London und Rom, Budapest und Paris können die Olympia-Asse ihren frischen Ruhm vermarkten. Die Veranstalter müssen den Sog olympischer Dramatik nutzen und die Olympia-Lieblinge präsentieren, solange sich noch jeder an sie erinnert.
Aber der Olympia-Stress, Verschleiß und mangelnde Anpassung an neun Stunden Zeitunterschied zu Los Angeles lassen überwiegend müde Helden in den Arenen antreten. Die US-Sieger etwa hatten in der Nacholympia-Woche den Empfang beim Präsidenten und eine Konfettiparade in New York zu überstehen, bevor sie nach Europa aufbrachen. »Ich bin müde«, bekannte der vierfache Olympiasieger Carl Lewis, nachdem er im ersten nacholympischen Rennen nur Vierter geworden war. »Ein Weltrekord ist nicht mehr drin.«
Erstaunlich genug, daß Hochsprung-Olympiasieger Dietmar Mögenburg Höhen von 2,30 Meter bewältigte, daß Olympiasiegerin Evelyn Ashford in Zürich (für 15 000 Dollar) sogar beim Sieg gegen DDR-Weltmeisterin Marlies Göhr den 100-Meter-Weltrekord auf 10,76 Sekunden verbesserte.
Beim voraufgegangenen Start in Hannover hatte sie, tatsächlich oder scheinbar verletzt, noch ausgesetzt; Hürden-Olympiasieger Edwin Moses nötigten Magenkrämpfe von der Bahn. Beide büßten ihr Startgeld ein. Der Brasilianer Joaquim Cruz, Schnellster im olympischen 800-Meter-Finale, erschien gar nicht erst. Die Zuschauer pfiffen - wie immer, wenn Anspruch und Leistung zu weit auseinanderklaffen.
Bis 1982 waren internationale Sportfeste die einzige Chance für die Stars gewesen, Startgelder und Rekordprämien an Amateurwächtern und der Steuer vorbei zu kassieren. IOC-Mitglied Willi Daume setzte 1981 als Vorsitzender der Zulassungskommission des Internationalen Olympischen Komitees endlich durch, daß Athleten mit ihren Leistungen verdienen und werben dürfen. Auch der Leichtathletik-Weltverband IAAF folgte; die nationalen Verbände bildeten Athletik-Fonds, deren Erträge die Sportler nach dem Ende ihrer Laufbahn abrufen können.
»Heute ist das alles viel einfacher«, so Klaus Ulonska, ein früherer Staffel-Europameister, der das Kölner Internationale organisiert. »Krumme Sachen unter dem Tisch laufen nicht mehr.« Der Arzt Thomas Wessinghage, Europameister über 5000 Meter, entgegnete im letzten Jahr auf die Frage nach dem Grund seiner Vielstarterei offenherzig: »Um Geld zu verdienen. Das kann man ja jetzt sagen.«
Verzwickt genug bleiben die Spielregeln der Gagen-Olympiaden dennoch. Über ihren Verband dürfen Athleten dreierlei Vergütungen annehmen: ein Taschengeld bis zu 50 Dollar täglich, Spesen für Reise, Unterkunft und Verpflegung sowie das Startgeld, das sich durch Extrazulagen für Rekorde aufstocken läßt.
Für »''nen Appel und ''n Ei starten 90 Prozent« der etwa 150 bis 200 Teilnehmer eines der 28 vom Weltverband anerkannten Sportfeste, weiß Heiner Henze, deutsches Mitglied in der Technischen Kommission der IAAF. Nur »eine Handvoll sprengt den Rahmen«, verriet Res Brügger, Organisator des erfolgreichsten, alljährlich stattfindenden Internationalen Sportfestes in Zürich. Die Veranstalter arbeiten mit Etats zwischen 500 000 Mark (Hannover) und 1,3 Millionen Franken (Zürich).
Rahmensprengender Topverdiener der Saison ist Carl Lewis: Er ist für 20 000 Dollar pro Start willkommen, macht zusammen 100 000 Dollar bei fünf Starts in Europa. Moses, auch die ansehnliche Evelyn Ashford, stehen zur Zeit mit 15 000 Dollar auf der Besetzungsliste, ebenso der Brasilianer Cruz und der Brite Sebastian Coe. Die oberen Zehn der Athleten genießen zudem Privilegien: Moses darf Ehefrau Myrella, die Ashford ihren Ehemann und den Trainer, Lewis seinen ganzen Clan mitbringen.
In der Bundesrepublik können noch etwa 25 Athleten einen »nennenswerten Betrag« (Henze), etwa zwischen 1000 und ausnahmsweise 10 000 Dollar erwarten; die Zürcher mochten für Mögenburg nicht mehr als 10 000 Mark anlegen. Weil Mögenburg das zu wenig war, lud Finanzchef Brügger ihn wieder aus: _(Beim 100-Meter-Weltrekord in Zürich; ) _(beim Diskus-Weltrekord in Prag. )
Deutsche gehören bestenfalls zur Mittelklasse der Athleten-Hierarchie.
Wichtig ist der Stellenwert der jeweiligen Disziplin in der Gunst des Publikums. Diskuswerfen etwa nahmen die Kölner Veranstalter erst wegen des deutschen Olympiasiegers Rolf Danneberg nachträglich ins Programm auf. Stabhochsprung gilt als besonders »spektakuläres Element, mehr als der Hochsprung«, berichtete Henze. Frauen stehen gewöhnlich niedriger im Kurs als Männer; Ulrike Meyfarth kommt auf etwa 5000 Mark Startgeld.
Der einstige US-Hochsprung-Weltrekordler Dwight Stones »kriegt dagegen für etwas anderes Geld, als die 2,30 Meter, die er vielleicht springt«. Durch Faxen und gestenreiche Zwiesprache mit den Fans setzt er der nüchternen Leistungsparade ebenso »Schaucharakter« auf wie der US-Dreispringer Willie Banks.
Auf eine Prise Clownerie mögen die Veranstalter um so weniger verzichten, als eher enttäuschende Leistungen reichlich Frust verbreiten. Zudem entfiel ein zusätzlicher Spannungsfaktor fast völlig: Zur großen Abrechnung der Boykott-Sportler aus dem Ostblock mit den Olympia-Startern kam es nur punktuell, in Budapest etwa, dem einzigen IAAF-Sportfest im Ostblock, bei dem Dollar-Gagen auf dem Spiel stehen. Dazu trägt Andy Norman bei, der Manager des britischen Weltrekordlers Steve Ovett, der Budapest im Verbund mit London vermarkten hilft.
Aber Lust und Leistungen sackten auch bei den sozialistischen Sportlern deutlich ab. DDR-Speerwurf-Weltrekordler Uwe Hohn (104,80 Meter) blieb in Zürich gut 17 Meter hinter seiner Bestmarke zurück; die DDR-Sprint-Weltrekordlerin Marlies Göhr ließ in Prag in der Staffel den Stab fallen. Auch die Ostblock-Athleten hatten ihren Leistungsgipfel langfristig auf die Olympia-Tage programmiert. Kurz vorher und nachher erzielten vor allem die Werfer Weltrekorde, zuletzt mit dem Diskus Irina Meszynski aus der DDR, wegen ihrer stattlichen Körpermaße (1,76 Meter/100 Kilo) von »Bild« als »Wuchtbrumme« vorgestellt.
In London und Berlin fehlten die Stars des sozialistischen Lagers zwangsläufig, denn zugleich fanden in Moskau und Prag die Gegenspiele der Boykottnationen statt, bei denen die Athleten um die Prämien kämpften, die ihnen in Los Angeles entgangen waren. Aber die folgenden Veranstaltungen hätten die UdSSR und ihre Verbündeten beschicken können. Daß UdSSR-Athleten jedoch entgegen vorheriger Zusage Zürich mieden, hatte auch diesen Grund: Bei offiziellen IAAF-Meetings finden Dopingkontrollen statt.
Aus dem Ostblock sickerte in diesem Zusammenhang ein zusätzlicher Grund für den Olympia-Boykott durch: Danach hatten eingehende vorolympische Recherchen in Los Angeles die Sportführung des sozialistischen Lagers in Panik vor den bisher strengsten Dopingkontrollen versetzt.
Die Athleten hätten Anabolika und Hormonkuren früher als sonst absetzen müssen, zu früh womöglich, als daß ein Wettbewerbsvorteil erhalten geblieben wäre. Ein Dutzend Dopingfälle beim Olympia rechtfertigte die Ängste.
Professor Joseph Keul, Chef der deutschen Ärztemannschaft in Los Angeles, bestätigte: »Die Dopingkontrollen werden immer besser. Zehn, ausnahmsweise sogar zwölf Wochen« lassen sich chemische Manipulationen mittlerweile zurückverfolgen. »Die müssen sich etwas einfallen lassen«, empfahl er den Ostblock-Kollegen.
Keul stellte zwar klar, daß Doping keineswegs die einzige und wesentliche Erklärung für die Überlegenheit einiger Ostblock-Athleten ist. Aber chemische Nachhilfe kann in vielen Fällen, in denen mehrere gleichwertige Athleten antreten und Winzigkeiten entscheiden, »den Ausschlag geben«.
Das erklärt auch, daß Ostsportler die IAAF-Sportfeste in Westeuropa mieden; DDR-Athleten tauchten nur in Zürich auf, Sowjetstars sagten für Rom (31. August) zu. Ihre Weltrekorde erzielten die Boykottsportler fast nur im eigenen Bereich, ohne das Risiko eines Dopingtests einzugehen. Von 1985 an ist auch das nicht mehr möglich; dann verlangt die IAAF auch zur Anerkennung von Weltrekorden einen Dopingtest.
Die Risiken von Dopingtests und Verschleiß durch zu viele Starts brauchen Südkoreas Olympioniken nicht zu ängstigen. Die Regierung setzte ihren sechs Olympiasiegern eine Prämie von umgerechnet jeweils 108 000 Mark aus und zahlt ihnen überdies eine monatliche Leibrente von 3 000 Mark.
Beim 100-Meter-Weltrekord in Zürich; beim Diskus-Weltrekord in Prag.