100 Jahre FC St. Pauli Raus aus der Charmefalle!
Es stimmt alles, was man über das Altern sagt. Leider! Die Zeit beschleunigt sich, wenn man über 30 ist, exponentiell. Wenn das mit 40 wieder aufhört, bitte ich, mir das mitzuteilen. Die Saison ist soeben beendet, und der Gedanke, dass Fußball am Anfang einer Saison nicht schockt, weil die Tabelle in den ersten sechs Wochen keinerlei Relevanz hat, scheint nur drei bis vier Wimpernschläge her.
Und wenn man sich dann noch einen Leserbrief durchliest, den man vor fast 15 Jahren an das St.-Pauli-Fanzine "Der Übersteiger" geschickt hat, bekommt man es mit der Angst zu tun. Sterben will keiner. So viel ist klar! Und sich einen Brief von sich selbst nach so langer Zeit durchzulesen, ist ein wenig, wie sich selber mit seinem eigenen Ejakulat einzureiben. Es ist nicht schön, aber es ist eben man selber. Da kann man nichts machen.
Der erste Impuls ist natürlich zu sagen, dass sich in diesen 15 Jahren nichts getan hat und da immer noch die gleichen Sorgen, Nöte und Probleme rund ums Millerntor grassieren. Der Brief könnte - bis auf einige schreckliche Wortkonstruktionen aus den neunziger Jahren - genauso gut von einem 20-Jährigen im Jahre 2009 geschrieben worden sein. Suff, politische Unkorrektheiten, Aggression und Dummheit gehören wie überall auf der Welt zum Alltag. Auch auf St. Pauli, was manche immer noch mit einem Soccer-Wolkenkuckucksheim verwechseln.
St. Pauli sind wir alle
Das hier ist nämlich Fußball. Hier darf jeder hingehen, der sich so halb nicht strafbar macht. Gehen wir davon aus, dass mein Bruder vor einigen Jahren an einem Freitag sein Abiturzeugnis erhielt, und wir am folgenden Samstag im Restaurant der Astra-Brauerei im 87. Stock über St. Pauli dieses freudige Ereignis feierten. Ich war damals stark von dem Wunsch besessen, ein St.-Pauli-Spiel zu besuchen (Antifa, ein Drittel Punk, Modefan, Dorftyp - die komplette Rutsche), und meine Mutter fragte den Ober: "Mein Sohn möchte zu einem St.-Pauli-Spiel gehen. Ist das eigentlich gefährlich?"
Mütter machen so was doch mit Absicht, um ihre Söhne in Peinlichkeitschweiß zu baden, oder? "Nee, ich gehe da morgen auch hin. Kann also so gefährlich nicht sein", sagte der Kellner. Und plötzlich sitzt man ein paar Jährchen später in Berlin und hört "Internet-Radio" über eine von der Telekom gesponserte Seite. Dazwischen hat sich mal eben kurz die ganze Welt - privat wie auch global - verändert. Nur Musik und St. Pauli sind die einzigen Konstanten geblieben, die einen begleitet haben und begleiten.
In den letzten Jahren fällt auf, dass ein gewisser St.-Pauli-Bonus weg ist. Viele Leute winken ab, wenn man sagt, dass man St.-Pauli-Fan ist. Es kommt einem so vor, als ob das Land langsam diesem ganzen Paadie-, Freibeuter-der-Liga-, Buntes-Viertel-Kultes überdrüssig geworden ist. Jeder kennt einen, der ein Totenkopf-T-Shirt trägt, sich aber gar nicht für Fußball interessiert. Ich prangere das nicht an. Ich stelle es fest.
Aber genau darin könnte eine Chance für den FC St. Pauli liegen. Raus aus der Charmefalle, die so viel bedeutet, wie in einem Auto von 1979 durch die Gegend zu fahren. Alle finden, dass es geil aussieht, fahren dann aber doch lieber lässig mit einem Auto mit Hybridantrieb zur Arbeit und wieder zurück. St. Pauli - wenn ich das so pathetisch sagen darf - sind wir alle.
Und es wird langsam Zeit mal mitzuteilen, dass wir mehr sind als Männer auf einem Zaun mit Zylinder auf dem Kopf und braun-weißer Schminke auf den Wangen. Ich mag diesen Mann, aber er ist nicht ich. Das Kultige an St. Pauli ist so stark überbetont, dass es an der Zeit scheint, dass Normale zu betonen, um dadurch zu einer sportlichen und stylischen Bedrohung zu werden.
Brauche keine Sympathie dafür, dass ein ganzes Stadion gegen Nazis ist
Was man gelernt hat, vergisst man nicht mehr. Wir haben unsere Punk- und Bürgerrechtslektionen gelernt und wir werden sie nicht vergessen. Wir wissen, wie Anderssein geht und werden das nicht vergessen. Es gilt, sich andere Sachen einzuverleiben und anzugreifen. Ich möchte nie wieder bei Sport1 vom Moderator als "Pauli" bezeichnet werden. Genau das ist es nämlich, dessen ich überdrüssig bin. Pauli! "Daz häääz von sang bauli, doas is moine Hoimat, inn hammurch, da binnich su haus!" Wenn sich hier wieder jemand drüber aufregt, bestätigt das nur meine These. Wir sind viele, und wir sollten das akzeptieren.
Ich möchte nie wieder, dass ein Trainer der gegnerischen Mannschaft nach einem Spiel sagt "dass es kultig ist, am Millerntor zu spielen, und dass die Fans so wahnsinnig authentisch sind". Ich möchte in die Augen eines Trainers sehen, in denen Angst steht, weil seine Mannschaft gerade abgeschossen, auseinandergenommen, vernichtet, geschlagen wurde. Ich will Respekt und Erfolg und keine Sympathie.
Ich brauche keine Sympathie dafür, dass ein ganzes Stadion gegen Nazis ist. Das sollte selbstverständlich sein. Alles andere ist ein unerträglicher Status Quo. Sympathie habe ich für einen Hund mit drei Beinen ohne Herrchen. Der vielleicht sinnloseste Chor in diesem ganzen Konflikt ist "no one likes us - we don't care". "Everyone likes us, that might be the problem", möchte man antworten! Wenn man so aufgestellt ist wie der FC St. Pauli, hat man eh die Sympathie aller Menschen, von denen man sie haben möchte. Von anderen bekommt man sie sowieso nicht und will sie auch gar nicht.
Aber ist es nicht nach all den Jahren des Chaos (Verkauf der Marketing- und Merchandise-Rechte, drohende Insolvenz und Misserfolge) gerade zum 100. Geburtstag vielleicht an der Zeit, das Beste aus seiner Vergangenheit zu bündeln und das Schlechte hinter sich zu lassen und sich hinaufzukatapultieren in wundervolle, ungeahnte Höhen?
Papier ist geduldig. Das heißt, dass es in zehn Jahren immer noch da ist, außer wenn Atomkrieg ist oder so.