Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat im Interview "Wer Druck spürt, ist von seinem Denken und Tun nicht überzeugt"

Sven Mislintat: "Wir akzeptieren Leistungsschwankungen, wenn man wie wir auf viele jüngere Spieler setzt"
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SPIEGEL: Herr Mislintat, der VfB Stuttgart steht als Aufstiegsfavorit nach der Hinrunde auf Platz drei der Tabelle. Sind Sie überrascht?
Mislintat: Wir wussten, was uns erwartet: brutale Intensität, hohe Zweikampfdichte, maximale Physis. Die Vereine setzen auf eine große mannschaftliche Geschlossenheit. Teams wie Heidenheim und Aue, die auch oben dran sind, sind sehr schwer zu spielen. Beide sind Teil unseres Auftaktprogramms mit den nicht minder schweren Auswärtspartien auf St. Pauli und im Pokal in Leverkusen.
SPIEGEL: Wird man als VfB Stuttgart von Teams anders empfangen?
Mislintat: Osnabrücks Trainer Daniel Thioune hat es mal so formuliert: Jeder spielt gegen uns, als wäre es ein Pokalspiel. Damit muss man leben, wenn man als VfB Stuttgart oder auch als Hamburger SV in der Zweiten Bundesliga um den Aufstieg kämpft.
SPIEGEL: Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie den Kader zusammengestellt?
Mislintat: Wir folgen immer klaren Handlungsprinzipien - und dies unabhängig von der Liga: Die Mannschaft zu verjüngen, richtig Potenzial zur Weiterentwicklung zu haben und trotzdem schon sehr gute Qualität auf den Platz zu bekommen. Wir haben uns bewusst für diesen relativ radikalen Umbau entschieden und konsequent vorangetrieben - wohl wissend, dass es ein Ritt auf der Rasierklinge ist, dem Anspruch gerecht zu werden, dem sich der VfB Stuttgart stellen muss und an sich selbst haben sollte: nämlich aufzusteigen.
SPIEGEL: Ist das Risiko nicht zu hoch, mit einem verjüngten Team in eine Saison zu gehen, in der man aufsteigen möchte?
Mislintat: Die nach Sicherheit Schreienden denken so, die Pessimisten. RB Leipzig etwa ist gerade Tabellenführer mit einer der jüngsten Mannschaften aller 18 Bundesligateams. Es geht immer um die Qualität und insbesondere um den Mut, die Jungen auch spielen zu lassen. Wir akzeptieren Leistungsschwankungen, wenn man wie wir auf viele jüngere Spieler setzt, weil wir ihre Potenziale und Einstellung jeden Tag im Training sehen.
SPIEGEL: Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit, wenn Sie ein Team für den Meisterschaftskampf oder wenn Sie es für den Wiederaufstieg aus der zweiten Liga zusammenstellen?
Mislintat: In der Systematik überhaupt nicht. Es geht um Datenanalyse, qualitative Videoanalyse, Livescoutings, Gespräche. Was sich verändert sind Budgets und die Märkte. Wir reden hier über Jahresgehälter, die in anderen Klubs teilweise ein Monatsgehalt darstellen. Selbst wenn ein Spieler siebenstellig verdient, was eine absolute Ausnahme in der zweiten Liga ist, gibt es bei Champions-League-Klubs durchaus Spieler, die das Zwölffache davon und noch mehr im Jahr bekommen.
SPIEGEL: Frustriert Sie das kleinere Budget manchmal?
Mislintat: Das frustriert mich gar nicht. Es ist natürlich schwieriger, diese absoluten Toptalente zu bekommen, wenn man beim VfB arbeitet, als bei meinen beiden vorherigen Klubs. Dafür wird aber auch das Portfolio an Spielern größer, die man verpflichten kann. Weil natürlich das Qualitätslevel nicht so hoch angesetzt ist für die entsprechend niedrigeren Ziele.
SPIEGEL: Eine ganz neue Erfahrung für Sie.
Mislintat: Was richtig Spaß macht und motiviert, ist auch mit dem VfB Stuttgart Jungs zu finden und gefunden zu haben, die durchaus auch in Deutschlands Top-Sechs-Klubs hätten landen können.
SPIEGEL: Was hatte für Sie in diesem Winter Priorität?
Mislintat: Wir haben bewusst nur kleine Veränderungen am Kader vorgenommen. Mit Emiliano Insúa hat uns ein sehr verdienter Spieler verlassen und wir haben uns entschieden, Santiago Ascacíbar ohne direkten Ersatz ziehen zu lassen. Wir hatten ein Überangebot an zentralen Mittelfeldspielern, acht Spieler für vier Positionen. Wenn du im Mittelfeld mit einer Raute spielst, ist das noch okay. Jetzt, wo wir häufiger mit Flügelspielern und nur drei zentralen Mittelfeldspielern spielen, ist es zu viel. Dazu nehmen wir Darko Churlinov, vom 1.FC Köln verpflichtet, und Lilian Eglof aus dem eigenen NLZ fest in den Kader. Wieder klar im Sinne unserer Prinzipien: supertalentierte, junge, aggressive, hungrige, motivierte Spieler.
Der aktuelle Kader des VfB Stuttgart in der Übersicht
SPIEGEL: Werden Sie noch nachlegen?
Mislintat: Im Prinzip ist noch Puffer da, etwas tun zu können. Aber nur, wenn es uns wirklich jetzt direkt verstärkt oder das Potenzial für die erste Liga hat. Und dann haben wir noch eine entscheidende Stellschraube gedreht und den Trainer gewechselt.
SPIEGEL: Warum kam es zur Trennung von Tim Walter?
Mislintat: Unser Plan mit ihm ist leider nicht komplett aufgegangen. Das tut uns weh, denn Tim ist ein guter Typ, der auch einen interessanten, sehr offensiven Ansatz im Fußball hat. Mit dem wir aber de facto in den letzten zehn Spielen nur elf Punkte geholt haben.

Sven Mislintat mit Pellegrino Matarazzo im Trainingslager auf Marbella
Foto: Hansjürgen Britsch via www.imago-images.de/ imago images/Pressefoto BaumannSPIEGEL: Was erwarten Sie für fußballerische Veränderungen unter Pellegrino Matarazzo?
Mislintat: Nicht von heute auf morgen, sondern mit Geduld und im Detail wollen wir uns weiterentwickeln. Wir wollen uns defensiv verbessern und Dominanz anders definieren als hauptsächlich durch Ballbesitz. Dominanz bedeutet auch, dass der Gegner im besten Fall nicht weiß, wie man uns verteidigen soll. Ballbesitz bleibt Teil und Mittel der Dominanz, aber genauso wollen wir Situationen erkennen, um schnell vertikal zu spielen, häufiger in die Tiefe und ins Zentrum zu spielen, sowie unser Umschaltspiel in beide Richtungen als Möglichkeit zur Verbesserung annehmen.
SPIEGEL: Verspüren Sie Druck?
Mislintat: Nein. Wer Druck spürt, ist von seinem Denken und Tun nicht überzeugt. Wer Druck nachgibt, handelt eher politisch, die eigene Position erhaltend. Man scheut sich, das Richtige für seinen Klub zu tun, wenn es einen den Job kosten könnte. Ich konzentriere mich auf das, was ich beeinflussen kann, folge einer klaren Strategie, mit klaren Handlungsprinzipien und einem klassischen Wertekompass. Wenn ein Verein zehn Jahre eine solche Talfahrt hatte, mit zwei Abstiegen in den vergangenen vier Jahren, kannst du nicht erwarten, dass man das in einer Sommer-Transferperiode korrigiert.
SPIEGEL: Wie viel Zeit werden Sie benötigen?
Mislintat: Normalerweise braucht man mindestens drei Jahre, um so was umzukehren. Man muss doch nur mal nach Dortmund und Liverpool gucken: Unter Jürgen Klopp dauerte es jeweils drei Jahre Aufbauzeit, um die jeweiligen Ziele zu erreichen. Und man kann auch nicht erwarten, dass wir keine Fehler auf unserem Weg machen. Es müssen nur ehrliche Fehler sein - solche, bei denen wir die Entscheidung im Vorfeld aus voller Überzeugung getroffen haben.