Leverkusens 4:4 gegen Rom Die Nacht der Rätsel
Dass auch in der Leverkusener Arena richtig Stimmung sein kann, konnte man am Dienstagabend erleben. Es half natürlich, dass sich ein denkwürdiger Fußballabend zugetragen hatte, mit acht Toren, absurden Wendungen und einem Finale, bei dem auch Bayer Leverkusen sich nicht zu hundert Prozent sicher war, was es davon zu halten hatte.
"So ein Spiel hatten wir hier noch nie", sagte Rudi Völler nach dem seltsamen 4:4 (2:2) gegen AS Rom, immer noch um Fassung ringend. Dem Sportchef stand noch immer Schweiß auf der Stirn nach einer aberwitzigen Fußballshow, an deren Ende sich Völler dann doch "wie der kleine moralische Sieger" fühlen durfte, weil der Klub in den letzten Minuten einen Zwei-Tore-Rückstand aufgeholt hatte.
Verrückt war dieser Abend aber auch, weil man am Ende, als der Nebel des Wahnsinns sich verzogen hatte, vor einem Berg von Rätseln stand. Hatte Bayer nun gut oder schlecht gespielt? Waren die Leverkusener Helden oder Versager? War das Unentschieden verdient oder glücklich? Und überhaupt: Handelt es sich bei Bayer um eine Spitzenmannschaft - oder doch eher um ein Team, das zu unberechenbar ist, um wirklich mit den Besten mitzuhalten?
Nur eine These ließ sich nicht bestreiten: "Das war alles andere als ein normales Fußballspiel, dafür kommt man ins Stadion, weil solche Sachen möglich sind", sagte Trainer Roger Schmidt. Jenseits dieser Erkenntnis blickten die Beteiligten aber auf ein Kuriosum zurück, auf ein Duell der Widersprüche.
Schmidt "habe super gewechselt, total risikoreich", sagte Völler, aber natürlich kann man dieses Lob auch in einen Vorwurf an den Trainer umkehren. Möglicherweise wäre es besser gewesen, den zuvor monatelang verletzten Innenverteidiger Ömer Toprak gegen einen solch starken Gegner nicht auf der anspruchsvollen Position im defensiven Mittelfeld einzusetzen. Nachdem Toprak draußen war, machte Bayer aus dem 2:4 noch ein 4:4.
Das Spiel war voll von solchen Unklarheiten. Der mexikanische Angreifer Hernandez beispielsweise schoss die ersten beiden Tore, normalerweise ist das ein guter Grund für eine hervorragende Bewertung. Doch der erste Treffer war ein umstrittener Elfmeter, beim zweiten vergab er zunächst eine sehr gute Möglichkeit, hatte lediglich Glück dass ihm der gehaltene Ball ein zweites mal vor den Fuß sprang. Und noch in der ersten Halbzeit vergab Hernandez die großartige Chance zum 3:0, als er aus fünf Metern am leeren Tor vorbei köpfte. War der Doppeltorschütze, der ganz zum Schluss beinahe zum Superhelden geworden wäre, als ihm beinahe den 5:4-Siegtreffer gelungen wäre, nun gut oder schlecht?

Fotostrecke: Acht Tore in Leverkusen
So oder so war es ein Spektakel und Schmidt fand das Spiel seiner Mannschaft "bis auf die halbe Stunde rund um die Halbzeit sehr gut". Aber auch das kann man anders sehen. Gut war Bayer eher in den ersten und in den letzten 15 Minuten, die Stunde dazwischen gewannen die Italiener völlig verdient 4:0.
"Wir haben das zwischenzeitlich total aus der Hand gegeben, weil Rom viele zweite Bälle gewonnen hat", sagte Kevin Kampl, der einzige Leverkusener, der 90 Minuten lang richtig gut gespielt hatte. Und der dem Spiel in der Schlussphase seine wohl entscheidende Wendung gab. Nachdem die Römer ihren 0:2-Rückstand durch vier Tore, drei davon nach Standardsituationen, in eine 4:2-Führung verwandelt hatten und Bayer eigentlich schon besiegt war, gelang dem Slowenen ein wunderschöner Schuss in den Winkel (84. Minute), der das Stadion und die Kollegen mit Zuversicht und einem neuen Energieschub versorgte. "Das ist der einzige Schuss, den ich ganz gut kann, mit der Innenseite in die Ecke", sagte Kampl und predigte die Thesen, die auch sein Trainer alle paar Tage wiederholt. "Wir stecken in einem Lernprozess, unsere Spielweise macht Megaspaß, aber das braucht alles Zeit."
"Glatte Siege sind auch manchmal schön"
Die Sache mit dem Spaß traf an diesem Abend zweifellos zu, und in der Champions League spielt der Werksklub eigentlich immer spektakulär, seit Schmidt im Sommer 2014 an den Rhein kam. Neun Treffer haben sie in den drei Partien der Gruppenphase nun schon geschossen und drei weitere in der Qualifikationsrunde.
In der Bundesliga sind die Spiele der Werkself hingegen weniger spektakulär. In neun Partien gelangen insgesamt magere acht Tore und das Publikum bekam mehrfach ein schwer verdauliches Gerumpel vorgesetzt. Auch das ist so ein merkwürdiger Widerspruch dieser rätselhaften Leverkusener. Es bleibt unklar, ob Roger Schmidts spezieller Fußball dazu taugt, dauerhaft mit den besten Mannschaften der nationalen Liga und des Europapokals mitzuhalten.
Wobei solche Zweifel am Rhein ausgesprochen unerwünscht sind. Zweifel sind Gift. Der Balleroberungsfußball dieses Teams baut darauf, dass das Kollektiv mit maximaler Konsequenz zusammenarbeitet, dass jeder Spieler in jedem Moment die erforderlichen Schritte macht, und so sagte Schmidt: "Glatte Siege sind auch manchmal schön, aber solche Spiele, wo man als Mannschaft eine Reaktion zeigen muss auf bestimmte Spielverläufe, tun natürlich gerade jungen Spielern sehr gut und helfen auch, an die Dinge zu glauben".
Wobei diese merkwürdige Fußballnacht den Glauben gleichermaßen erschüttern wie stärken konnte.
Bayer Leverkusen - AS Rom 4:4 (2:2)
1:0 Hernandez (4., Handelfmeter)
2:0 Hernandez (19.)
2:1 De Rossi (29.)
2:2 De Rossi (38.)
2:3 Pjanic (54.)
2:4 Falque (73.)
3:4 Kampl (84.)
4:4 Mehmedi (86.)
Leverkusen: Leno - Donati, Tah, Papadopoulos, Wendell - Toprak (79. Yurchenko), Kramer (66. Brandt) - Bellarabi (57. Mehmedi), Kampl - Hernandez, Calhanoglu
Rom: Szczesny - Torosidis, Rüdiger, Manolas, Digne - Nainggolan, De Rossi - Florenzi (90. Iturbe), Pjanic - Salah (62. Falque), Gervinho (85. Dzeko)
Schiedsrichter: Kassai (Ungarn)
Zuschauer: 29.412
Gelbe Karten: Kramer, Wendell - Nainggolan (2), De Rossi (2)