Kaderanalyse Borussia Dortmund Trainer Favre braucht mehr Spielraum

Der Kader des BVB ist zu groß. Der Wille zur Verkleinerung ist da, die Ladenhüter wird Dortmund aber nicht los. Stattdessen soll mit Axel Witsel ein weiterer Topspieler kommen. Viel zu tun für Trainer Lucien Favre.
BVB-Trainer Lucien Favre

BVB-Trainer Lucien Favre

Foto: Daniel Bartel/ dpa

Borussia Dortmund wird Deutscher Meister. Sagt zumindest Heiko Herrlich, Trainer von Bundesliga-Konkurrent Bayer Leverkusen. Der ehemalige Stürmer des BVB hatte das auch vor der vergangenen Katastrophen-Saison der Dortmunder prophezeit, in diesem Jahr könnte Herrlich damit aber zu einem Trendsetter werden.

Woraus sich dieser Optimismus einiger Experten genau speist, ist unklar. Liegt es an dem diffusen Gefühl, der auf Kontinuität setzende FC Bayern könne ohne große Transfers und mit dem eher unerfahrenen Trainer Niko Kovac in Schwierigkeiten geraten? Oder an dem Eindruck, BVB-Coach Lucien Favre mache jede Mannschaft sofort besser - völlig unabhängig von den atmosphärischen Störungen, die in Dortmund seit Monaten vorherrschen und die durch die lange Sommerpause nicht verschwunden sein dürften.

Der nicht als Entertainer bekannte Favre wird die Gräben nur mit sportlichem Erfolg zuschütten können. Gelingen soll der von Manager Michael Zorc ausgerufene "Neustart" mit einer laut Favre "sehr hoch" stehenden Mannschaft. Anders als unter seinem Vor-Vorgänger Peter Bosz legt er aber großen Wert auf defensive Absicherung. Der BVB wird wieder viel Ballbesitz haben, Favre möchte bei Ballgewinn aber auch schnell umschalten.

Christian Pulisic

Christian Pulisic

Foto: Justin Berl/ AFP

Die ersten Testspiele haben gezeigt, dass Favre im Training einen Schwerpunkt auf Konter gelegt hat. Als Christian Pulisic gegen den FC Liverpool einen dieser Konter zum vorentscheidenden 2:1 verwertete, jubelte der 60-Jährige an der Außenlinie ausgelassen. Eine große Stärke Favres ist, mit den vorhandenen Spielern zurechtzukommen. In Dortmund trifft er auf einen extrem talentierten Kader, der mit aktuell 28 Spielern aber deutlich zu groß ist und trotzdem noch eine entscheidende Lücke aufweist:

  • Tor: Nach dem Rücktritt von Roman Weidenfeller kam mit Marwin Hitz eine neue Nummer zwei, die freiwillig auf einen WM-Einsatz mit der Schweiz verzichtete, um gerüstet für den Konkurrenzkampf mit Landsmann Roman Bürki zu sein. Hier ist der BVB gut gerüstet, auch wenn beide Torhüter nicht zur absoluten Spitze in der Bundesliga zählen.
  • Innenverteidigung: Favre gilt als fordernder Förderer von Talenten. Deshalb ist es denkbar, dass der BVB mit Manuel Akanji, 23, und Zugang Abdou Diallo, 22, als Stamm-Innenverteidigung in die Saison geht. Routine bringt nur Ömer Toprak mit, der Franzose Dan-Axel Zagadou hat die geringsten Chancen auf einen Stammplatz. Favre setzt im Zentrum auf Passsicherheit, das wird im Hinblick auf den Saisonstart gegen RB Leipzig am 26. August das entscheidende Kriterium sein.
  • Außenverteidigung: Seit Jahren führt beim BVB auf dieser Position kein Weg an Marcel Schmelzer und Lukasz Piszczek vorbei. Das könnte sich unter Favre ändern, denn mit Raphaël Guerreiro und der Madrider Leihgabe Achraf Hakimi stehen zwei Spieler zur Verfügung, die besser zum Anforderungsprofil des Trainers passen: Hoch stehen, große Laufarbeit, hohe Flanken vermeiden, Torchancen kreieren - da könnten sich die Routiniers häufiger auf der Ersatzbank wiederfinden. Jeremy Toljan steht hinten an und gehört zu den Spielern, die bei einem Angebot den Verein verlassen dürfen.
  • Defensives Mittelfeld: In den kommenden Tagen soll der belgische WM-Dritte Axel Witsel verpflichtet werden. Sportlich ist das ein erstklassiger Deal, der allerdings Fragen aufwirft: Bieten Witsel und der aus Bremen gekommene Thomas Delaney genügend spielerische Fähigkeiten, um gemeinsam aufzulaufen? Befindet sich Julian Weigl tatsächlich auf dem Sprung zu Paris Saint-Germain? Bekommt der talentierte Mahmoud Dahoud dann überhaupt etwas Spielzeit? Sind Sebastian Rode und BVB-Legende Nuri Sahin nur noch Ladenhüter, für die es aber keine Angebote gibt? Was die Spieleröffnung angeht, kann Favre eigentlich nicht auf Weigl verzichten.
Mario Götze

Mario Götze

Foto: Bernd Thissen/ dpa

  • Offensives Mittelfeld: In welchem System wird Favre den BVB spielen lassen? Aus der Bundesliga kennt man seine Mannschaft im flachen 4-4-2 ohne echten Spielmacher und mit einer hängenden Spitze. Dortmunds Kader spricht eher für ein 4-3-3 oder das in den Testspielen erprobte 4-1-4-1. In einem 4-4-2 wäre jedenfalls kein Platz für Mario Götze und Shinji Kagawa, die sich von allen anderen Mittelfeldspielern unterscheiden und mit ihren Pässen wichtig für das schnelle Umschaltspiel sein können.
  • Außenbahn: Wie in der Mittelfeldzentrale hat Favre ein Überangebot zur Verfügung, das einen vorzeitigen Abgang von Pulisic möglich macht. Eigentlich sollte der US-Amerikaner ein Gesicht der BVB-Zukunft sein, aber sein Vertrag läuft nur noch bis 2020 und Pulisic will nicht verlängern. Ein Verkauf in die Premier League wäre lukrativ und angesichts der Konkurrenz um Marco Reus, Jadon Sancho, Marius Wolf, Sergio Gómez, Maximilian Philipp und dem bisher in der Vorbereitung überzeugenden Jacob Bruun Larsen sportlich zwar ein Verlust, aber eventuell noch zu verkraften. Allerdings könnte Pulisics Verkauf ein bedenkliches Signal an das erfolgsverwöhnte Dortmunder Umfeld sein.
  • Sturm: Willkommen auf der großen Baustelle im BVB-Kader. Mit dem 18-jährigen Alexander Isak gibt es nur einen gelernten Mittelstürmer, derzeit hilft der auf Außen ausgebildete Philipp im Zentrum aus. Auf dieser Position wird ohne den zum FC Chelsea zurückgekehrten Michy Batshuayi Geduld gefragt sein, denn es stehen derzeit keine Topstürmer zum Verkauf, die sofort helfen würden. Ende August, wenn das Transferfenster in der Bundesliga schließt, könnte das anders sein.

Nach den Abgängen von André Schürrle, Gonzalo Castro, Sokratis, Andriy Yarmolenko und Erik Durm benötigt der BVB weitere Verkäufe, die im besten Fall nicht Weigl oder Pulisic heißen sollten. Herrlich wird wegen der zahlreichen Ungereimtheiten im Kader wahrscheinlich wieder unrecht haben.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten