Thiagos wohl letzter Auftritt für den FC Bayern Liebe auf den letzten Blick

Der Wechsel nach Liverpool gilt inzwischen als sicher: Thiago
Foto:DAVID RAMOS / AFP
Die Spieler des FC Bayern standen aufgereiht da, unter ihnen eine Plane der Uefa, hinter ihnen ein Aufsteller, auf dem in Versalien "winners" geschrieben stand, daneben das Wappen der Münchner. Die Mannschaft posierte für Siegerbilder.
Doch sie war nicht komplett. Ein paar Meter abseits stand, fast schon einsam, Thiago.
Thiago, 29, ist Münchens Spielmacher. Die 90 Minuten von Lissabon gegen Paris Saint-Germain (1:0) dürften seine letzten im Bayern-Trikot gewesen sein. Seit Sommer 2013 ist er im Klub, er verbrachte mehr Zeit beim FC Bayern als bei seinem Heimatverein Barcelona. Es gilt als sicher, dass sie nun endet und Thiago nach Liverpool wechselt, zu Jürgen Klopp. Sich mit dem Champions-League-Sieg zu verabschieden, das wäre ein passender Abschluss.
#Thiago mit einem stillen Moment für sich ganz alleine. #PSGFCB pic.twitter.com/Hz7EmCXU5L
— Patrick Strasser (@AZ_Strasser) August 23, 2020
Es gibt nicht viele Spieler im Kader des FC Bayern, über die die Meinungen so weit auseinander gehen wie bei Thiago. Je tiefgehender sich jemand mit Fußball beschäftigt, desto höher ist oft die Wertschätzung für den Spanier. Von Trainern, Scouts und Analysten ist kaum ein schlechtes Wort über ihn zu hören.
Gleichzeitig hält sich die Erzählung, Thiago tauche immer dann ab, wenn es unbequem werde, wenn der Gegner besonders groß, die Umstände einer Partie kompliziert sind. Seit Jahren schon wird dieses Narrativ verbreitet. Wie ein erdachtes Gerücht, das einer Person ewig anhaftet, wenn es erst mal in die Welt gesetzt wurde.
"Ich sage dazu gar nichts. Ich spiele"
Vor dem Finale verglich die "Bild" die Bayern-Spieler mit den Parisern, die Münchner schnitten insgesamt deutlich besser ab als PSG. Nur zwei Spieler bewertete die Zeitung schlechter als ihr Pendant: Ivan Perisic und Thiago.
Lothar Matthäus sagte einst, Thiago habe "in den großen Spielen bisher nicht den Unterschied gemacht". Als würde er erwarten, dass sich Thiago den Ball schnappt und losrennt und trifft, so wie er selbst bei der WM 1990 gegen Jugoslawien.
Auf die Kritik, er würde abtauchen in großen Spielen, antwortet Thiago, dass er zwar respektiere, was die Leute denken und behaupten, aber: "Ich sage dazu gar nichts. Ich spiele."

Trainer Hansi Flick umarmt Thiago nach dem Titelgewinn
Foto: MIGUEL A. LOPES / AFPIn einem Spiel, das von Intensität und Pressing geprägt ist, ist er die Ruhe selbst. Ein Blick, Ballannahme, Pass, wieder anbieten. So ordnet er das Spiel der Bayern, und er bewegt den Pariser Abwehrblock, von links nach rechts und zurück.
Vor der ersten Großchance der Bayern spielt Thiago den Ball auf den linken Flügel raus. Vor der zweiten Großchance verlagert er das Spiel nach rechts. Vor dem 1:0 spielt er einen seiner Thiago-Pässe, diagonal und blitzschnell, durch vier PSG-Spieler hindurch und genau in Joshua Kimmichs rechten Fuß. Das ist wichtig, denn so kann Kimmich den Ball direkt vorwärtstreiben.
Fast immer, wenn die Bayern gefährlich werden, hat Thiago zuvor einen Pass gespielt. Hat er also den Unterschied gemacht? Oder hat er gespielt wie immer?
Einigkeit herrscht darüber, dass Thiago ein feiner Kicker ist. Einer, der mit dem Ball umgehen kann, der Pässe spielt, an die sich andere nicht heranwagen. Das könnte man mutig nennen. Oder als Leichtsinn auslegen.
Schönspieler im Land der Zweikämpfer?
Manchmal scheint es, als genüge es nicht, ein guter Fußballer zu sein. Thiago ist da kein Einzelfall.
Philippe Coutinho, ein begnadeter Fußballer, gesegnet mit Technik und klugem Gespür dafür, wie er sich zwischen den gegnerischen Linien zu postieren hat, scheint manchem als in München nur deshalb nicht als gescheitert zu gelten, weil er sich zuletzt mit seiner Rolle als Einwechselspieler begnügt hat. In seiner Zeit bei den Bayern war er im Schnitt pro 90 Minuten an 1,03 Toren direkt beteiligt gewesen. Thomas Müllers Wert: 1,03.
James Rodríguez hatte Ähnliches erlebt: Wenn er durfte, hatte er große Momente. Vergangene Saison erreichten nur drei Münchner eine bessere Quote, was Torbeteiligungen betraf. Die Bayern ließen ihn trotzdem ziehen, was öffentlich kaum als schlechte Idee bezeichnet wurde.

Kaum jemand bei Bayern erobert so viele Bälle wie Thiago
Foto: David Ramos/POOL/EPA-EFE/ShutterstockAls Fußballer sind alle drei unterschiedlich, sie eint aber, dass sie das Fußballspielen aussehen lassen können als das, was es ist: ein Spiel. Im Ausland werden alle drei geschätzt. Hierzulande scheint es fast, als seien sie Schönspieler im Land der Zweikämpfer.
Gerade bei Thiago ist das auch deshalb irritierend, weil er so viele Bälle erobert. Statistisch gesehen tut das bei den Bayern kaum jemand mehr als er. Trainer Hansi Flick, der nicht müde wird zu betonen, wie gern er Thiago halten würde, nannte ihn einmal seinen "Stabilisator vor der Abwehr".
Aber es scheint, als würden seine Ballgewinne übersehen werden, solange sie ihm nicht grätschend gelingen. Als bräuchte es immer dieses Sich-in-den-Ball-Werfen als Ausweis, dass er auch wirklich will.
Spieler wie Thiago sind kaum erschwinglich
Gegen Paris wirft sich Thiago in Bälle. Er grätscht am eigenen Strafraum. Bestreitet zehn Zweikämpfe, sechs davon gewinnt er. Nebenmann Leon Goretzka bestreitet elf und gewinnt vier.
Gegen Paris tut Thiago aber auch mehr, als zu passen und Bälle zu gewinnen. Vieles von dem, was er auf dem Platz für die Mannschaft bewirkt, geht tatsächlich leicht unter. Manchmal geht es darum, sich wenige Meter zur Seite zu bewegen, um den richtigen Passwinkel zu schaffen. Kurze, unscheinbare Läufe mit großer Wirkung, denn mit ihnen hält Thiago das Spiel am Laufen.
Bei den Bayern beherrscht das Joshua Kimmich, dahinter wird es eng. Der Klub wird einen Ersatz verpflichten müssen. Nur wen? Spieler wie Thiago sind kaum erschwinglich. Es gibt von seiner Sorte und Klasse nicht viele auf der Welt.
Noch während das Endspiel lief, wurde Thiago dann doch an prominenter Stelle gewürdigt. Im ZDF nannte ihn Kommentator Béla Réthy den "Man of the Match". Bei DAZN wurde sein Pass auf Kimmich vor dem 1:0 gepriesen. "Focus Online" schrieb gar von einer "epischen Leistung".
Vielleicht ist das wie mit so vielen Dingen im Leben: dass man sie gerade dann schätzt, wenn sie einem verloren zu gehen drohen.
Auch die "Bild" fand nach dem Paris-Spiel lobende Worte für Thiago. Sie erteilte ihm die Note 2. Er sei "aggressiv" gewesen, hieß es dort, und "richtig stark in den Zweikämpfen".