Bayerns Gegner Atlético Madrid El Cholos Revolution

Diego Simeone: »Die Charakteristiken deiner Spieler markieren den Weg«
Foto: Oscar J. Barroso / imago images/ZUMA WireZufälle haben schon die Welt verändert, in der Geschichte und im Fußball sowieso. Es kann außerdem helfen, in Umständen wie der aktuellen Pandemie nicht nur eine Zumutung, sondern auch eine Herausforderung zu sehen. Als Diego »Cholo« Simeone, Trainer von Atlético Madrid, kürzlich wegen Unpässlichkeiten und Überlastungen mal wieder an seiner Aufstellung tüftelte, rang er sich also zu etwas durch, das er in seinen neun Jahren beim Verein zuvor nur in äußersten Notfällen getan hatte. Er wechselte das System.
Das kratzbürstige 4-4-2 des Argentiniers schien so sicher wie der nächste Steuerbescheid. Nun aber verfolgte Fußball-Spanien staunend, wie Simeone in einer Formation mit drei Innenverteidigern und aufrückenden Außenbahnspielern operieren ließ. Dass es damit zuletzt bei den schweren Partien gegen den FC Barcelona und in Valencia jeweils zu Siegen mit dem ureigensten aller Atlético-Ergebnisse reichte – je 1:0 –, erhöht den Kredit der Reform. Wie auch der Umstand, dass mit Yannick Carrasco just einer der Flügelspieler zum Matchwinner avancierte. In eigens gestarteten Umfragen plädieren überwältigende Fanmehrheiten dafür, die neue Anordnung doch bitteschön beizubehalten. Also auch heute gegen den FC Bayern in der Champions League (21 Uhr; TV: Sky; Liveticker SPIEGEL.de).
Die Münchner stehen schon als Gruppensieger fest und lassen Manuel Neuer und Robert Lewandowski daheim. Für Atlético aber geht es nach bisher erst fünf Punkten um eine ganze Menge. Gewinnt vorher Lokomotive Moskau gegen Salzburg (18.55 Uhr; Stream: DAZN), hätte Atlético bei einer Niederlage das Weiterkommen nicht mehr in eigener Hand. Ein Sieg wiederum würde bei einem Ausrutscher der Russen die Qualifikation fürs Achtelfinale bedeuten.
Simeone wimmelte am Vorabend alle Systemfragen ab, er ist über die Jahre auch nicht gerade auskunftsfreudiger geworden. Aber offenbar flexibler. Es wirkt fast, als erfinde Simeone gerade einen neuen Stil für sich.
Plötzlich bis zu 68 Prozent Ballbesitz
Sein Team verteidigt höher, das Mittelfeld beschränkt sich nicht mehr auf Zerstörung. Die traditionell konterstarke Elf kann sich jetzt auch präzise durch die gegnerischen Reihen kombinieren und kam zuletzt auf nie gesehene Ballbesitzquoten. Gegen Barça waren es 46 Prozent, wo der Durchschnitt in den zuvor 28 Spielen gegen die Katalanen während der Simeone-Ära bei 31 Prozent gelegen hatte. Auswärts in Valencia wiederum wurde der Gegner dank 68 Prozent Ballbesitz regelrecht eingeschnürt.
Das heißt nicht, dass Atlético plötzlich Hurra-Fußball spielte. Defensive Stabilität bleibt für Simeone unverhandelbar. Nicht umsonst erklären sich die sieben Siege und zwei Remis aus neun Spielen in der heimischen Liga zuvorderst mit erst zwei Gegentoren. In der Champions League freilich gelangen Salzburg an einem einzigen Abend genauso viele (3:2), dem FC Bayern im Hinspiel das Doppelte (0:4). Zwei Unentschieden gegen Lok Moskau (1:1 auswärts, 0:0 daheim) folgten. Ob Atléticos neue Rezepte auch für Europa taugen, muss sich also noch erweisen.
Mit den alten gelangen 2014 und 2016 zwei Finaleinzüge und 2014 die spanische Meisterschaft. Es waren die ersten Jahre des »Cholismus«, in die Atlético mit viermal so kleinem Budget wie die Großklubs Real und Barcelona startete. Damals galt berechtigterweise schon als epochal, auf höchstem Niveau wettbewerbsfähig zu werden: Es ist nach wie vor die historische Schlüsselleistung Simeones, für die sie ihn bei Atlético in alle Ewigkeit fast so kultisch verehren werden wie seinen Landsmann Maradona in Neapel.
Aus der Meisterelf sind noch der heutige Kapitän Koke übrig, der im Alter von 28 schon beachtliche 470 Pflichtspiele für den Verein bestritten hat. Sowie Diego Costa, 32, der inzwischen dauerverletzte Stürmer. Die anderen Granden sind weg, und ihre Nachfolger haben vielleicht noch nicht immer den eisernen Charakter eines Diego Godín oder Gabi Fernández. Aber oft mehr spielerische Klasse.
»Ich verstehe nicht, wie sie mit der Qualität, die sie haben, so Fußball spielen können«, wunderte sich Liverpools Jürgen Klopp, nachdem ihn Kollege Simeone vorige Saison mit einer Vintage-Abwehrschlacht aus der Champions League gemauert hatte. Aber auch intern wurde dem Trainer eine dominantere Spielweise nahegelegt. »Wir fühlen uns wohler, wenn wir vorn pressen und Ballbesitz haben«, sagt der momentan überragende Mittelfeldmotor Koke, fügt aber diplomatisch hinzu: »Die (alte) Philosophie, viel zu rennen und uns zurückzuziehen, werden wir trotzdem auch beibehalten.«
Ausgangspunkt war die Verpflichtung von Luis Suárez
Simeone selbst führt den neuen Variantenreichtum auf den Königstransfer des Sommers zurück: »Alles beginnt mit der Präsenz von Suárez«, so der Trainer über den vom FC Barcelona verpflichteten Stürmer Luis Suárez. Diego Costa und Álvaro Morata – mittlerweile zu Juventus Turin gewechselt – hätten ihre Stärken eher im Raum. »Luis dagegen braucht mehr Mitspieler nah bei sich.« Im Prinzip sei es doch bei allen Trainern gleich: »Die Charakteristiken deiner Spieler markieren den Weg.«
Suárez war in den vergangenen Wochen wegen Covid verhindert. Als größter Profiteur der gestiegenen Präsenz in der gegnerischen Hälfte erweist sich aber ohnehin João Félix, der 127-Millionen-Euro-Einkauf des Vorsommers. Anstatt sich weitab vom Tor mit langen Pässen herumschlagen zu müssen, kommt der portugiesische Edeltechniker zu den Ballkontakten in Strafraumnähe, die ein Spieler wie er braucht. Mit sieben Treffern hat er schon jetzt fast so viele erzielt wie in der gesamten Vorsaison (neun).
»Wir greifen mehr an, das wolltet ihr doch alle«, resümiert Innenverteidiger Stefan Savic, eher einer der alten Schule. Vom »Cholismus 2.0« schreibt »Marca«. Bisher lebt er auch vom Überraschungseffekt, und sowieso halten neue Ideen bei Simeone oft nur bis zur nächsten Ergebniskrise. Es muss sich noch zeigen, ob wirklich der Wind der Geschichte über Atlético weht. Oder nur ein Revolutionslüftchen.