Deutsche EM-Finals Gezaubert, gepatzt, geklaut
Sie ist gnadenlos, kennt keine Gefühle, lügt nie. Und sie sagt voraus: Deutschland wird das EM-Finale gegen Spanien nicht gewinnen. Die Statistik ist eine seltsame Erscheinung. Geliebt und gehasst zugleich, taucht sie immer dann auf, wenn Prognosen gefragt sind. Wenn es darum geht, die Zukunft mit Hilfe der Vergangenheit vorherzusagen. Und statistisch gesehen muss die DFB-Elf verlieren.
Fünf Endspiele hat Deutschland bislang bestritten, drei davon gewonnen. Die Statistik besagt: Gewann die Bundesrepublik den Titel, verlor sie bei ihrer folgenden Finalteilnahme. 1972 und 1976 war das so, 1980 und 1992 auch. 1996 in England holte Deutschland zuletzt den Titel, folglich müsste das Team von Bundestrainer Joachim Löw nun verlieren. Damit nicht genug: Gegner Spanien gewann sein erstes Finale 1964, verlor das zweite 1984, wäre also wieder an der Reihe mit einem Triumph.
Wenn am Sonntag die Partie zwischen Deutschland und Spanien angepfiffen wird (20.45 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE), hat die Statistik aber erst einmal Pause. Sie lügt zwar nie - aber sie muss auch nicht immer Recht behalten. Sonst hätte die DFB-Elf 1996 nicht den Titel holen dürfen, weil in den vier vorherigen EM-Finalspielen mit deutscher Beteiligung immer diejenige Mannschaft gewann, die 1:0 in Führung ging.
Die Geschichte Deutschlands bei Europameisterschaftsendspielen: Es ist eine von spielerischen Glanzleistungen, kuriosen Elfmetern und strittigen Schiedsrichterentscheidungen. Gezaubert, gepatzt, geklaut - SPIEGEL ONLINE blickt zurück auf die deutschen EM-Finals.
1972 - Ein magisches Trio sorgt für den ersten EM-Titel
Die Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und der niederländischen Nationalmannschaft sind - auch bei genauerem Hinsehen - überschaubar. Und dennoch gibt es etwas, womit sich nur diese beiden Teams schmücken können: Sie stellten einst bei der Wahl zu Europas Fußballer des Jahres die drei Erstplazierten.
1988, als die Niederlande in Deutschland den EM-Titel holen, sind es Marco van Basten, Ruud Gullit und Frank Rijkaard, die die ersten drei Plätze belegen. 16 Jahre zuvor gelang dieses Kunststück Franz Beckenbauer, Günter Netzer und Gerd Müller.
Diese drei sind bei der EM 1972 in Belgien die herausragenden Akteure, bilden ein magisches Trio. Es ist ein Turnier, das in die Geschichte eingeht, weil es so einseitig ist. Im Finale gegen die UdSSR gelingt es den Deutschen, dreißig Pässe in Folge zu spielen, ohne dass auch nur ein sowjetischer Spieler den Ball berührt. Es ist eine Dominanz und spielerische Leichtigkeit zugleich, wie sie nie wieder eine deutsche Elf gezeigt hat.
Das erste Tor im Endspiel leitet Libero Beckenbauer mit einem Pass auf Netzer ein, der den Ball volley aus der Luft nimmt und gegen die Latte hämmert. Müller steht - wie immer - genau richtig und staubt ab zum 1:0 (27. Minute). Treffer Nummer drei bekommt er von Hans-Georg Schwarzenbeck aufgelegt (58.), zuvor hatte Herbert Wimmer das zwischenzeitliche 2:0 erzielt (52.). Deutschland zaubert auf dem Rasen und holt seinen ersten EM-Titel, Beckenbauer wird erstmals Europas Fußballer des Jahres.
Apropos: Neben Beckenbauer, Müller und Netzer sowie van Basten, Gullit und Rijkaard gibt es ein weiteres Trio aus demselben Land, das bei der Wahl zu Europas Fußballer des Jahres die ersten drei Plätze belegte. 1981 wurde Karl-Heinz Rummenigge mit diesem Titel ausgezeichnet, gefolgt von Paul Breitner und Bernd Schuster. Deutschland vs. Niederlande - 2:1.
1976 - Die deutsche Aufholjagd wird nicht belohnt
Wenigstens nahm er es später mit Humor. "Nach dem Ball suchen sie heute noch", scherzte Uli Hoeneß über den Schuss, den er im Elfmeterschießen am 20. Juni 1976 in den Nachthimmel von Belgrad befördert. Und weil Antonín Panenka anschließend in einem Anflug von Wahnsinn - oder war es schlicht Abgezocktheit? - den Ball in die Tormitte löffelt und Sepp Maier in die linke Torwartecke springt, ist die DFB-Elf enttrohnt und die Tschechoslowakei neuer Europameister.
Dabei sieht es zunächst gar nicht danach aus, als müsste ein Elfmeterschießen über den neuen Titelträger entscheiden. Die CSSR liegt durch Tore von Jan Svehlík (8. Minute) und Karol Dobias (25.) bereits 2:0 in Front. Doch die Antwort folgt prompt. Nach Flanke von Rainer Bonhof trifft Angreifer Dieter Müller mit einem akrobatischen Seitfallzieher (28.).
Deutschland drängt fortan eine Stunde auf den Ausgleich, scheitert aber immer wieder an Ivo Viktor. Der Keeper der CSSR läuft zur Form seines Lebens auf, zeigt eine Parade nach der anderen - bis zur 89. Minute. Bei einer Bonhof-Ecke zögert Viktor beim Rauslaufen, entschließt sich zu einer Faustabwehr, doch da hat Bernd Hölzenbein bereits eingeköpft. Es kommt zur torlosen Verlängerung, anschließend zum Elfmeterschießen.
Die ersten sieben Schützen treffen, dann schreitet Uli Hoeneß zum Punkt - und patzt. "Ich beschloss, richtig draufzuhauen, den Ball in die Ecke zu schießen", erinnert sich der heutige Manager des FC Bayern München. Panenka macht es anschließend besser und die Tschechoslowakei zum Europameister. Ein trauriges Jubiläum für Franz Beckenbauer: Der "Kaiser" verlor in seinem 100. Länderspiel sein zweites Finale bei einem großen Turnier nach dem WM-Endspiel 1966.
1980 - Mit "Brechern" zum glanzlosen EM-Triumph
Der EM-Titel 1972 blieb wegen der spielerischen Brillanz des deutschen Teams in Erinnerung. Das siegreiche Finale 1996 sollte später in die Geschichte eingehen, weil es das erste war, das durch "Golden Goal" entschieden wurde. Wofür aber steht der Triumph 1980 und das Turnier in Italien? In erster Linie für wenig Tore, wenig begeisternde Spiele und wenig Zuschauer.
Daher gibt es kaum einen anderen deutschen Titelgewinn, der weniger in den Köpfen haften blieb, als der EM-Sieg von Rom. Es war nicht zuletzt aufgrund der Spielweise ein glanzloser Triumph.
Dabei hat die DFB-Elf mit Bernd Schuster und Hansi Müller technisch hervorragende Spieler in ihren Reihen. Doch das Bild des deutschen Teams wird vor allem von den großen "Brechern" geprägt. Karl-Heinz Rummenigge ist so einer, Hans-Peter Briegel auch und nicht zuletzt Horst Hrubesch.
Dabei soll das "Kopfballungeheuer" im Finale gegen Belgien eigentlich gar nicht spielen. Jupp Derwall entscheidet sich erst im letzten Moment, den Angreifer des HSV aufzustellen, der zuvor eher mit schwachen Leistungen als durch Torgefährlichkeit aufgefallen war. Doch die Wahl des Bundestrainers soll sich als richtig erweisen.
Bereits nach zehn Minuten verwertet Hrubesch per Fuß einen genialen Schuster-Pass zum 1:0. Es ist sein erstes Tor im Nationaltrikot überhaupt. Und das zweite folgt wenig später. Nachdem René Vandereycken in der 75. Minute per Elfmeter den zwischenzeitlichen Ausgleich erzielt, wird Hrubesch seinem Spitznamen doch noch gerecht. Als bereits alles auf die Verlängerung hindeutet, köpft er eine Rummenigge-Ecke zum Siegtreffer ins Netz (88.).
1992 - Eine "Burger-Truppe" wird Europameister
Von wegen Urlaub. Peter Schmeichel trainiert, als ihn die Meldung erreicht, dass Dänemark für das ausgeschlossene Jugoslawien bei der EM 1992 nachrücken wird. Der Torwart bereitet sich in Kopenhagen auf ein bedeutungsloses Testspiel gegen die GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, ehemals UdSSR) vor und erinnert sich: "Die Gerüchte gab es bereits beim Mittagessen. Als wir nach der zweiten Trainingseinheit in die Kabine kamen, wurde uns mitgeteilt, dass wir in Schweden dabei sind."
Der Rest ist - teils erfundene - Legende: Die Gute-Laune-Fußballer aus dem Land der Hot Dogs, die sich bereits an den Stränden Südeuropas aalen, packen ihre sieben Sachen, stärken sich auf dem Weg nach Schweden noch schnell bei einer Fast-Food-Kette und sacken kurzerhand den EM-Titel ein.
Dabei steht ihnen jedoch auch das nötige Glück zur Seite. Denn anfangs ist Deutschland im Ullevi-Stadion von Göteborg deutlich stärker. Dreimal verhindert Schmeichel einen drohenden Rückstand der Dänen, als er Schüsse von Karlheinz Riedle, Stefan Reuter und Guido Buchwald entschärft. Plötzlich jedoch fällt das 1:0 für die Skandinavier. Kim Vilfort erobert sich durch ein Foulspiel an Andreas Brehme den Ball, passt auf Flemming Povlsen, der John Jensen bedient. Dessen plazierten Schuss in der 18. Minute kann Torhüter Bodo Illgner nicht abwehren.
Schiedsrichter Bruno Galler aus der Schweiz ahndet das Foul an Brehme nicht. Und auch bei der zweiten strittigen Szene bleibt seine Pfeife stumm, als Vilfort selbst das zweite Tor für die "Burger-Truppe" besorgt (78.). Allerdings besteht der Verdacht, dass sich der Mittelfeldspieler von Brøndby IF den Ball mit der Hand vorgelegt hat. Doch selbst die Fernsehbilder können diese Szene nicht gänzlich aufklären.
Unfassbar: Unser kleiner Nachbar hat uns den Titel "geklaut" und ist Europameister. In Dänemark singen sie wochenlang: "Sade Deutsland, alles ist vorbei, alles ist vorbei, alles ist vorbei."
1996 - Gewinnbringende Worte von Frau Vogts
Wembley-Stadion in London, Deutschland gegen Tschechien, EM-Finale 1996. Wembley? Tschechien? Da war doch was? 30 Jahre zuvor hatte die deutsche Nationalmannschaft das WM-Endspiel gegen Gastgeber England an dieser Stätte durch das berühmte und umstrittene Wembley-Tor 2:4 verloren. Vor 20 Jahren unterlag die DFB-Elf im EM-Finale gegen die damals noch vereinte Tschechoslowakei 5:7 nach Elfmeterschießen. Nun, am 30. Juni 1996, bietet sich die Chance, beide Kreise zu schließen.
Nach einer ereignislosen und niveauarmen ersten Halbzeit geht Tschechien durch Patrik Berger in Führung, der nach 59 Minuten einen umstrittenen Elfmeter verwandelt. Matthias Sammer soll Karel Poborsky gefoult haben. Die Wende wechselt Bundestrainer Berti Vogts in Person von Oliver Bierhoff ein, der in der 69. Minute Mehmet Scholl ersetzt. Der Stürmer von Udinese Calcio ist keine fünf Minuten im Spiel, als er per Kopf den Ausgleich erzielt.
Bierhoff war ein Wackelkandidat, den Vogts zunächst gar nicht mit zur EM nehmen wollte. Es gehört zu den Legendenbildungen dieses Turniers, dass Monika Vogts vor dem Turnier zu ihrem Ehemann gesagt haben soll: "Nimm Oliver mit, er wird es dir danken." Bundestrainer Vogts gehorcht und Stürmer Bierhoff dankt.
In der 96. Minute steht er an der Strafraumgrenze mit dem Rücken zum tschechischen Tor, dreht sich und zieht ab. Der harmlose Schuss wird erst von Michal Hornak abgefälscht, dann lässt ihn der tschechische Torhüter Petr Kouba noch durch die Finger flutschen. Bierhoff trifft zum glücklichen Sieg und macht Deutschland zum dritten - und bislang letzten - Mal zum Europameister. Es ist das erste große Turnier, das durch ein "Golden Goal" entschieden wird.