Auf den vorderen Rängen der Torschützenliste bei der WM steht kein Lionel Messi. Kein Kaká. Erst recht kein Wayne Rooney - der nun wirklich nicht. Stattdessen finden sich dort hinter Spitzenreiter Gonzalo Higuain Spieler wie der ehemalige Bundesligaprofi des 1. FC Nürnberg Robert Vittek. Oder Luis Suárez von Ajax Amsterdam.
Und seit Sonntagnachmittag steht da oben auch Thomas Müller.
Die Analogien zu seinem berühmten Namensvetter Gerd sind nach dem WM-Auftaktspiel gegen Australien zur Genüge strapaziert worden. Den jungen Mann nervt das mittlerweile. Aber wenn Thomas Müller so weiterspielt und trifft wie gegen England, muss er das einfach aushalten.
Zwei Tore hat er gegen die englische Abwehr geschossen, dazu kam das begnadete Passspiel als Vorbereiter für Lukas Podolski beim 2:0. Wenn das 1:0 durch Miroslav Klose nicht durch einen direkten Torabschlag von Keeper Manuel Neuer zustande gekommen wäre, dann hätte Müller sicherlich auch irgendwie seinen Fuß dazwischen gehabt.
Der Jung-Siegfried des deutschen Fußballs
Zehn Minuten nach Spielende steht dieser Jung-Siegfried der deutschen Offensive zum Interview bereit und ist wieder der komplett unprätentiöse und unbekümmerte Typ. Der Müller von nebenan.
"Tja, in der Vitrine hätte ich noch einen Platz frei", sagt er zu der These, dass er den Titel als bester Nachwuchsspieler dieser WM bekommen könnte. Ob er denn Respekt vor einem möglichen Viertelfinalgegner Argentinien hege? "Das ist eh egal, wir müssen sowieso alle putzen."
Vielleicht muss man 20 sein, um mit einer solchen Lockerheit über die Mannschaft reden zu können, die von Diego Maradona betreut und von Lionel Messi angeführt wird.
Anschließend grüßte Müller via Fernsehen ernsthaft noch seine Oma. Als würde er gerade in einer 08/15-Radioshow auftreten und nicht in einem beginnenden nationalen Sommermärchen.
Es ist ab sofort vollständig egal, ob diese WM für Joachim Löws Team am kommenden Samstag im Viertelfinale (16 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) zu Ende geht oder nicht. Deutschland hat England deklassiert, und Thomas Müller ist der Titel des WM-Aufsteigers nicht mehr zu nehmen.
Wenn er bei Werder Bremen oder dem Hamburger SV spielen würde, dann würden spätestens ab jetzt die großen Clubs aus England und Italien anklopfen. Es spricht für den FC Bayern und dessen Trainer Louis van Gaal, dass man einen solchen Spieler inzwischen naturgemäß in München verortet. Bayern-Nachwuchscoach Hermann Gerland muss das Herz aufgegangen sein, als er seinen Schützling ein paar tausend Kilometer entfernt nach Lust und Laune hat aufspielen sehen.
Bei Thomas Müller ist es leicht zu behaupten, er spiele das Turnier seines Lebens. Bei Miroslav Klose, seinem Kollegen bei Bayern München und in der Nationalelf, kann man das nicht so sicher sagen.
Treue zahlt sich aus
Eine ältliche Sportreporterweisheit lautet, Deutschland habe eine Turniermannschaft als Nationalelf, und Miroslav Klose ist der beste Beweis dafür. Alle vier Jahre erstrahlt Kloses Stern, 2002 ging er auf, 2006 erreichte er seinen Zenit, 2010 steht er plötzlich wieder am Himmel. Nach dieser WM in Südafrika wird ihn wahrscheinlich niemand mehr abschreiben, wenn es mal nicht läuft.
Nie schien die Krise des Miroslav Klose so manifest wie in den Wochen und Monaten vor dieser Weltmeisterschaft. Monatelang war der Stürmer beim FC Bayern in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Viele Experten sind über Löw hergezogen ob dessen Treue zu seinem Stoßstürmer. Und jetzt trifft er gegen Australien, gegen Serbien fliegt er vom Platz, gegen England schießt er Deutschland in Führung. Es ist vielleicht nicht sein bestes Turnier, aber ganz bestimmt bisher sein aufregendstes.
Klose ist so etwas wie der Anti-Müller. Ein sensibler Sportsmann, einer, der sich Kritik so zu Herzen nimmt, dass er darunter zu verkrampfen droht.
Die Vorstellungen, die Klose in den Vorbereitungsspielen ablieferte, riefen teilweise Mitleid hervor. Es ist möglicherweise Löws größtes Verdienst, diesen Miroslav Klose wieder so hinbekommen zu haben, dass er seine alte Leistung abrufen kann. Eine Leistung, die man ihm nicht mehr zugetraut hätte.
Zutrauen ist das richtige Wort. Löw hat es immer zu Klose gehabt. Es ist eine schöne Geschichte im Profifußball, dass sich Vertrauen auch mal auszahlt. Nach diesem Spiel gegen England wird sich mancher entschuldigen müssen. Bei Löw. Bei Klose.
Was Kevin Kuranyi an diesem Sonntagnachmittag gemacht hat, ist übrigens nicht überliefert.
Klose hat mittlerweile 50 Länderspieltore erzielt. Er hat bei WM-Turnieren zwölfmal getroffen. Nur ein Deutscher hat noch mehr WM-Tore auf seinem Konto. Der Mann heißt Müller. Gerd Müller.
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Luftduell in den Anfangsminuten: Die deutsche Mannschaft erwischte gegen England einen guten Start und kontrollierte die Partie in der ersten Halbzeit. Hier streiten sich der wieder genesene Bastian Schweinsteiger und Frank Lampard um den Ball. Schon nach wenigen Minuten...
...brachte Mesut Özil einen ersten Warnschuss auf das Tor der Engländer, scheiterte aber an David James. Vom Gegner war...
...in den ersten 25 Minuten wenig zu sehen. Stürmer Wayne Rooney glänzte weniger durch spielerische Klasse, als...
...mit Diskussionsfreudigkeit - auch wenn er sich hier mit Teamkollege Jermain Defoe (l.) nicht ganz einig zu sein schien. Nach 20 Minuten...
...war es Miroslav Klose, der einen weiten Abschlag des eigenen Keepers Manuel Neuer, unter freundlicher Mithilfe der englischen Defensive, zum 1:0 verwandelte. Jubelnd über die frühe Führung...
...drehte die einzige deutsche Spitze zur Eckfahne ab. Trotz des Vorsprungs setzte die Löw-Elf sofort nach, ließ aber...
...zunächst noch gute Chancen aus. In der 34. Minute jedoch zielte Lukas Podolski genau - und erhöhte zum 2:0. Seinen zweiten Treffer im Turnier...
...feierte der Kölner ausgiebig. Es schien, als hätte das DFB-Team die Partie im Griff. Nur fünf Minuten nach dem Tor verschätzten sich jedoch...
...die deutsche Abwehr und auch Torwart Neuer. Matthew Upson verkürzte per Kopf für England. Sekunden später...
...hatte die Löw-Elf großes Glück, als der Schiedsrichter einen klaren Treffer von Frank Lampard nicht anerkannte. Neuer konnte...
...dem Ball, der die Linie deutlich passiert hatte, nur hinterherschauen. Lampard...
...beklagte sich so ausgiebig wie vergeblich über die Fehlentscheidung des Schiedsrichters. Mit dem 2:1 ging es in die Pause. Nach Wiederanpfiff drängte England auf den Ausgleich. Mitten hinein in die Drangphase...
...platzte Thomas Müller mit dem 3:1 für Deutschland. Schweinsteiger hatte...
...den Mittelfeldmann vorher glänzend freigespielt. Müller freute sich über seinen zweiten WM-Treffer, der Deutschland...
... aus der Umklammerung der Engländer befreite, natürlich riesig. Nur vier Minuten später...
...war es erneut Müller, der zum vierten deutschen Treffer einnetzte. Auch hier war ein starker Konter vorausgegangen. Am Ende...
...blieb es beim klaren Erfolg für das deutsche Team. Während bei Rooney und Kollegen der Frust...
...über die deutliche Pleite kaum Grenzen kannte, freuten sich...
...die deutschen Profis über den Einzug ins Viertelfinale. Hier nahm Müller die Glückwünsche seiner Teamkollegen entgegen, wenig...
...später holten sich die Männer des Abends auch die Ovationen der Fans im Stadion ab. Im nächsten Spiel geht es für die Mannschaft...
...von Trainer Joachim Löw gegen die Argentinier um Superstar Lionel Messi.
Manuel Neuer (Tor, FC Schalke 04): Manuel Neuer ist erst 24, aber schon jetzt steht fest: Er wird auch in 40 Jahren noch berühmt sein. Man wird ihn als den Torhüter in Erinnerung behalten, der einen Treffer gegen England nicht kassierte, der einer war. Einer seiner berühmten Vorgänger heißt Hans Tilkowski, DFB-Keeper im WM-Finale 1966. Der kassierte ein Tor, das keines war und das man heute als "Wembley-Tor" kennt. Abgesehen davon war Neuers Leistung gegen England spektakulär. Am Gegentreffer schuldlos, brillant gegen Frank Lampard oder Wayne Rooney, sagenhaft gegen Steven Gerrard. Ein bisschen weit draußen beim "Bloemfontain-Tor". Aber das zählte ja nicht.
Jérôme Boateng (Abwehr, Hamburger SV): Wurde nach dem Ghana-Spiel von Bundestrainer Joachim Löw für seine Schnelligkeit und Defensivstärke gelobt. Es galt deshalb als Schwächung, dass Boatengs Einsatz für das Achtelfinale zunächst fraglich war. Das muss man nun alles relativieren, bis auf Boatengs Schnelligkeit. Oft wackelig auf links, zu spät beim Kopfballgegentor durch Matthew Upson. Klärte immerhin wagemutig vor James Milner in der zweiten Hälfte.
Arne Friedrich (Abwehr, Hertha BSC): Wurde nach dem Ghana-Spiel und auch nach allen anderen Vorrundenpartien von Löw als der große Rückhalt gelobt - zweikampfstark, schnell und souverän. Man muss das auch nach dem England-Spiel nicht relativieren, Friedrich war eng an Rooney, schneller als Jermain Defoe und insgesamt viel zweikampfstärker als seine Gegenspieler. Größte Leistung: Luchste Defoe im Sechzehner den Ball vom Fuß.
Per Mertesacker (Abwehr, Werder Bremen): Der Defensivmann wurde nach dem Ghana-Spiel von Löw kritisiert - für ungenaue Spieleröffnung und Zweikampfdefizite. Man muss das nach dem England-Spiel relativieren. Mertesacker hatte mehr Licht als Schatten, es fehlten diesmal vor allem die haarsträubenden Fehler, die zu gegnerischen Chancen führten. Es fehlte aber auch diesmal die komplette Überzeugung, dass das schon der alte Mertesacker war.
Philipp Lahm (Abwehr, FC Bayern München): Ließ in der zweiten Hälfte einmal Defoe entwischen, was diesem in der gesamten ersten Halbzeit nicht einmal gelungen war. Vielleicht war Defoe deshalb auch überrascht - dem Angreifer sprang der Ball so weit davon, dass Neuer klären konnte. Lahm war nicht wirklich schlecht, aber wenn man bedenkt, wie gut er sein kann...
Lukas Podolski (Mittelfeld, 1. FC Köln): Wirkte lange so, als wollte er sich wie schon gegen Ghana unsichtbar machen. Das gelang ihm aber zum Glück dann doch nicht. Wurde von Thomas Müller in der 33. Minute mehr oder weniger gezwungen, das 2:0 zu schießen.
Sami Khedira (Mittelfeld, VfB Stuttgart): Darf man das? Nach einem solchen Spiel jemanden nicht loben? Man muss. Khedira hat nicht gut gespielt gegen England, er hat auch nicht gut verteidigt und nicht gut gepasst. Aber er war da, immerhin.
Bastian Schweinsteiger (Mittelfeld, FC Bayern München): War auch da, im Gegensatz zu seinem Nebenmann aber überall. Natürlich, man darf die Fehlpässe nicht weglügen, die auch Schweinsteiger unterliefen. Aber die Präsenz und Laufstärke, mit der er von Gegenspieler zu Gegenspieler eilte, ausputzte und Angriffe einleitete, war beeindruckend. Bereitete das 3:1 vor, quasi als Krönung einer Giganten-Vorstellung.
Thomas Müller (Mittelfeld, FC Bayern München, bis 72. Minute): Müller! Müller! Müller! Nicht Gerd, Thomas! Liebe Müllers da draußen, nennen Sie Ihr nächstes Kind Thomas! Vielleicht brauchen wir mal wieder einen Zwei-Tore-Mann gegen England.
Mesut Özil (Mittelfeld, Werder Bremen, bis 83. Minute): Vergab eine große Chance gleich zu Beginn, allerdings ist weder das Toreschießen Özils große Stärke (bei dieser WM) noch der rechte Fuß (noch nie!). Wurde immer besser, bis er schlussendlich Müller zum 4:1 bediente - mit links. Ist zwar einer der Kleinsten, wächst aber anscheinend automatisch mit der Mannschaft.
Miroslav Klose (Sturm, FC Bayern München, bis 72. Minute): Kann fortan als geheilt gelten. Litt ja an fehlendem Selbstbewusstsein und begann die Therapie mit einem Tor gegen Australien. Rückschlag gegen Serbien, aber gegen England der Klose, den man kennt. Torgefährlich, laufstark und selbstlos. Traf zur so wichtigen Führung, legte Müller auf, der Podolski auflegte und so weiter und so weiter. Was wirklich Mut macht: Bei seinen zwei Weltmeisterschaften zuvor hat Klose jeweils fünfmal getroffen. Drei Tore fehlen noch, und drei Spiele gibt es noch - inklusive des WM-Finals.
Piotr Trochowski (Mittelfeld, Hamburger SV, ab 72. Minute für Müller): Durfte mitspielen, fiel nicht weiter auf.
Mario Gomez (Sturm, FC Bayern München, ab 72. Minute für Klose): Blieb nach seiner Hereinnahme unauffällig.
Stefan Kießling (Sturm, Bayer Leverkusen, ab 83. Minute für Özil): Nur kurz drin, aber immerhin kann er sich nun echter WM-Teilnehmer nennen.
Partystimmung auf Deutschlands Fanmeilen: Wie hier in Berlin trafen sich am Sonntagnachmittag Hunderttausende Fans, um...
...den Klassiker Deutschland gegen England zu verfolgen. Manch ein Zuschauer ließ sich von seinen Nachbarinnen bejubeln...
...andere schwelgten in Schwarz-Rot-Gold, wohingegen...
...die englischen Fans kaum etwas zu lachen hatten.
Ausgelassen feierten die Fans den deutschen Sieg gegen die Briten und tanzten, wie hier im Münchner Olympiastadion,...
...in Münchner Biergärten,...
...oder auf der Fanmeile in Berlin. 500.000 Fans wollten das Spiel auf der "größten Fanmeile der Nation" verfolgen - bei...
...strahlendem Sonnenschein - und Temperaturen von bis zu 30 Grad.
...mussten die englischen Fans mit ansehen, wie ein Ball nach dem anderen ins Tor ging.
Einige deutsche Zuschauer konnten sich trotzdem mit den Rivalen anfreunden, andere...
...fieberten und fieberten, und sogar...
...tierische Fans feuerten die deutsche Nationalmannschaft an.
Während sich die deutschen Fans vor Freude kaum einkriegten.
Die Fans genossen die sonnige Atmosphäre - teilweise schon Stunden vor dem Anpfiff,...
...und viele konnten ihr Glück nicht fassen, als Deutschland sich in Führung schoss.
Auch in England versammelten sich Tausende von Zuschauern zum Public Viewing, doch im Gegensatz zu den deutschen Fans...
...hatten sie nichts zu lachen und waren...
...fassungslos als klar war, dass England...
...aus der WM ausgeschieden ist.
In Deutschland haben sich die Fans teils sehr intensiv auf die WM vorbereitet.
Philipp Lahm sagte nach der WM: "Wir freuen uns, dass alle an einem Sonntagnachmittag...
...mit uns feiern können."
Enttäuschte England-Fans waren wie paralysiert.
Allein in Berlin versammelten sich am Sonntag rund 350.000 Menschen an der Siegessäule - ein Besucherrekord.
Gegen Abend zogen die Fußballanhänger weiter Richtung Ku'damm. Die Straße wurde gesperrt.