Deutsches Team für Südafrika Löws WM-Wundertüte

Training des WM-Teams in Südtirol: Traum vom Titel
Foto: Bernd Weißbrod/ dpaDunkle Wolken ziehen über das Hotel Weinegg in Südtirol, es wird kühl auf dem Gelände des DFB-Hotels. Gleich fängt die Tagesschau an - und Joachim Löw ist immer noch nicht da. Mehrere Kameras stehen vor einem einsamen Tisch, eigentlich sollte der Bundestrainer schon lange dort stehen und diesen einen Namen nennen: Wer fährt nach Hause?
Das Warten wirkt mit jeder Minute grotesker. Es geht doch nur um Andreas Beck oder Holger Badstuber, vielleicht Stefan Kießling! Warum das ganze Bohei? Oder spricht der Aufwand für einen großen Namen? Klose? Gomez? Am Tag zuvor haben eine Menge Journalisten im Schloss Bellevue auf Horst Köhler gewartet, auch sie wussten nicht, was er sagen würde. Aber der Bundespräsident war wenigstens pünktlich. Der Bundestrainer ist seit einer halben Stunde überfällig.

Dann endlich, um acht Minuten nach acht, steht Joachim Löw an dem runden Tisch. Er spricht vier Minuten, beantwortet sechs Fragen. Das Wichtigste sagt er gleich zu Beginn: "Andi Beck wird aus dem endgültigen Kader gestrichen." Andreas Beck ist also der Erste und Einzige, den es nicht wegen einer Verletzung erwischt hat. Beck ist weg, der Rechtsverteidiger aus Hoffenheim, 23 Jahre alt. Es ist die Entscheidung mit dem geringsten Konfliktpotential, Beck ist noch jung, er wird den Rückschlag verdauen, auch wenn er laut Löw "zutiefst enttäuscht war".
Trotzdem muss die Entscheidung hinterfragt werden. Denn Löw hat in der Abwehr gekürzt und trotz der steten Dezimierung im Defensivbereich alle Stürmer im Kader belassen. Darunter drei Mittelstürmer, von denen zwei die Last einer schwachen Saison tragen - und die in einem 4-2-3-1-System nur um einen einzigen freien Platz kämpfen. Wurde am falschen Ende gespart?
Die Antwort auf diese Frage wird der WM-Verlauf beantworten, zunächst steht nach drei Wochen Vorbereitung der Kader, auf den der Bundestrainer setzt. 23 Spieler, mit denen der Deutsche Fußball-Bund bei der Weltmeisterschaft in Südafrika die Vorrunde überstehen muss, das Viertelfinale erreichen soll, aufs Halbfinale hofft - und vom Titel träumt. Ein junges Team mit zwölf Spielern, die bei der Euro 2008 noch nicht im Kader standen. Ein unerfahrenes Team mit 13 Spielern, die noch keine zehn Länderspiele absolviert haben. Eine Wundertüte.
Aber auch jede Menge Talent.
SPIEGEL ONLINE hat die einzelnen Mannschaftsteile analysiert und die Startelf eines Teams zusammengestellt, das nach dem Ausfall von Kapitän Michael Ballack nicht mehr zu den WM-Favoriten gezählt wird - und vielleicht genau deshalb über sich hinauswachsen könnte.
Die Torhüter - Löws Luxusproblem
Es gibt einen Spruch, den der deutsche Bundestrainer wohl auch noch vor der WM 2074 zitieren wird: "Um unser Torhüterproblem beneiden uns alle anderen." Gemeint ist ein Problem, das eigentlich keines ist: Wen ins Tor stellen, wenn man drei gleichwertige Schlussmänner zur Verfügung hat? 2010 fiel die Wahl auf Manuel Neuer, ein fußballbegabtes Talent mit dem Makel der Unerfahrenheit. Dass der jüngste der drei Keeper die Nummer eins ist, war zuletzt 1990 so - mit Bodo Illgner wurde Deutschland Weltmeister.
Doch kann das auch diesmal gutgehen? Spielt nicht der Bremer Tim Wiese seit Jahren konstant auf Top-Niveau und der für den verletzten René Adler aufgerückte Münchner Hans-Jörg Butt eine souveräne Rolle beim Deutschen Meister? Oder anders: Ist Neuer ein Risiko? Nein, oder zumindest kein größeres als Wiese oder Butt. Keiner der drei hat jemals bei einer WM im Tor gestanden, alle drei haben eine sehr gute Saison gespielt. Sie nehmen sich nichts.
Am Ende fiel die Entscheidung laut Löw-Assistent Hans-Dieter Flick ohnehin nur zwischen Wiese und Neuer, den Ausschlag gaben wohl Neuers Leistungen bei der U21 und seine größeren Fähigkeiten beim Mitspielen. Butt war, trotz der öffentlichen Sympathien für den Double-Sieger vom FC Bayern, von Anfang an chancenlos. "Wenn wir kurzfristig jemanden nominieren und dann zur Nummer eins machen, hätten wir im Vorfeld etwas falsch gemacht", sagte Flick.
Die Abwehr - die gesprengte Kette
Vielleicht wird nach der WM noch viel geredet werden über diese 91. Minute von Budapest. Das Testspiel zwischen Ungarn und Deutschland war schon längst entschieden, als sich Heiko Westermann verletzte. Kahnbeinbruch, WM-Aus. Westermann, oft unterschätzter Vielseitigkeitsprofi vom FC Schalke, hatte auf der linken Abwehrseite nicht geglänzt, aber ordentlich gespielt. Das fehlende Puzzleteil links hinten schien gefunden und mit ihm die Vierer-Abwehrkette. Westermann, Arne Friedrich, Per Mertesacker und Philipp Lahm.
Die Kette hatte etwas in Hülle und Fülle, was der so jungen Mannschaft ab dem Mittelfeld fehlt: Erfahrung. Es war eine Kette aus Sicherheitsbeamten, die den spielfreudigen Kreativen den Rücken freihalten konnte. Eine Kette für den Leitsatz des Sports: "Offensive gewinnt Spiele, Defensive gewinnt (Welt-)Meisterschaften." Dann wurde die Kette gesprengt.
Das neue Puzzleteil heißt nun Dennis Aogo. Der Hamburger ist sicher im Zweikampf und kann ordentliche Flanken schlagen. Aogo, U21-Europameister und mit dem HSV im Europa-League-Halbfinale, hat sich in dieser Saison durchgesetzt und sogar Interesse beim AC Mailand geweckt - aber es fehlen ihm Konstanz, Schnelligkeit und Torgefahr. Seine Nebenspieler kennt er bisher nur aus dem Training, die Zeit zum Einspielen wird knapp. Aogos Vorteil: Er ist gelernter Außenverteidiger.
Holger Badstuber könnte ebenfalls links spielen, wird aber von Joachim Löw als Innenverteidiger gesehen. Für Badstuber, 20, ein Länderspiel, gilt dort zunächst: Dabei sein ist alles. Ebenso für Serdar Tasci. Der Stuttgarter mit der Tendenz zum Phlegma hat sich unter seinem Clubtrainer Christian Gross stabilisiert und im DFB-Trainingslager oft lautstark dirigiert. Leider hat Tasci in der Vergangenheit Worten zu selten Taten folgen lassen.
Rechts gibt Jérome Boateng den Ersatz für Philipp Lahm. Der Bundestrainer hält dieses Duo für ausreichend und schickte deshalb den Rechtsverteidiger Beck nach Hause. Damit hat er sich aber auch festgelegt, dass Lahm bei der WM rechts hinten spielen wird. Die Personalie ist nicht ohne Brisanz, weil es seit Jahren Diskussionen darüber gibt, wo der neue DFB-Kapitän wertvoller ist. Links gilt er als offensivstärker, rechts als besser in der Defensive. Lahm spielt lieber rechts, er hat sich nun offenbar durchgesetzt.
Das Mittelfeld - Sturm und Drang
Am Dienstag wurde Bastian Schweinsteiger auf das deutsche Teamhotel in Südafrika angesprochen, das "Velmore Grand" liegt in einem Hochwassergebiet. Was also würde er tun im Fall des Falles? "Dämme bauen", sagte Schweinsteiger. Die Antwort sagt einiges über die Entwicklung Schweinsteigers aus. Er denkt auf seiner neuen Position im zentralen Mittelfeld zuerst defensiv, "von außen nach innen ziehen und dann abschließen, das war einmal."
Bei der WM soll er die Rolle von Michael Ballack einnehmen, der genau für dieses Denken stand. Löw hat ihn zum "emotionalen Leader" und Vizekapitän ernannt, es ist eine Menge Verantwortung für einen gerade 25-Jährigen. Doch man vergisst leicht, dass der Mann, den sie früher "Schweini" nannten, bereits über 70 Länderspiele absolviert und mit Bayern fünfmal das Double gewonnen hat. Schweinsteiger soll die bestimmende Figur im deutschen Spiel werden - dagegen spricht nicht viel.
Neben ihm wird Sami Khedira auflaufen, 23 Jahre alt, drei Länderspiele. Die beiden sind ähnliche Spielertypen, beide sollen das Spiel des Gegners unterbinden und das eigene Spiel gestalten. Vieles wird davon abhängen, wie beide dieses Wechselspiel hinbekommen - und wie schnell. Schweinsteiger und Khedira werden im letzten WM-Test gegen Bosnien-Herzegowina zum ersten Mal zusammen auflaufen.
Toni Kroos, Mesut Özil, Marko Marin, Piotr Trochowski, Thomas Müller, Lukas Podolski, Marcell Jansen - das offensive Mittelfeld war vielleicht noch nie mit derart vielen kreativen, ballgewandten, technisch starken und gleichzeitig jungen Spielern besetzt. Hier werden die Veränderungen, die der DFB im Jugendbereich nach dem EM-Debakel 2000 einläutete, am deutlichsten sichtbar.
Trotz der großen Auswahl zeichnet sich eine Dreierreihe mit Podolski (links), Özil (zentral) und Müller (rechts) ab. Özil hat in der WM-Qualifikation überzeugt, Podolski ist wegen seiner Dynamik und Torgefahr ohne Konkurrenz, und Müller hat den Bundestrainer sehr schnell für sich eingenommen. Löw schätzt an dem Bayern die Fähigkeit, in die Räume zu gehen und in Tornähe immer gefährlich zu sein. Bei der WM wird er die Rückennummer 13 tragen. Die Nummer von Michael Ballack und Gerd Müller.
Der Angriff - einsame Spitze?
Drei Mittelstürmer, eine Position: Mario Gomez, Miroslav Klose und Stefan Kießling kämpfen um einen einzigen freien Platz im deutschen Angriff. Wer setzt sich durch?
Am Dienstag schien zumindest die Frage beantwortet, wer sich nicht durchsetzt. Da saß Stefan Kießling nach dem Vormittagstraining fünfzehn Minuten vor allen anderen im Bus, allein. Oliver Bierhoff sprach ausführlich über Klose und Gomez, Kießling blieb nahezu unerwähnt und galt im Laufe des Tages plötzlich als wahrscheinlichster Streichkandidat. Jetzt fährt er doch mit - aber der mit 21 Treffern beste deutsche Torschütze der Bundesliga ist chancenlos auf einen Stammplatz.
Den hat aktuell Miroslav Klose sicher, trotz nur drei Bundesligatoren für die Bayern und angeschlagenem Selbstbewusstsein. Die Trainer vertrauen darauf, dass der erfolgreichste Nationalstürmer des vergangenen Jahrzehnts wieder zu alter Form findet. Ein riskantes Spiel auch für den Bundestrainer, der sich mit jedem Spiel ohne Klose-Tor angreifbarer macht.
Erster Ersatz für Klose ist nicht Kießling, sondern Gomez. Der Münchner gilt schon seit Jahren als Versprechen auf die Zukunft, als schneller, kopfballstarker und mitspielender Mittelstürmer. Beim FC Bayern kam er in der Hinserie auf zehn Treffer, alle von Beginn an. Als Einwechselspieler hat Gomez in München kein einziges Mal getroffen - Beleg für die These, dass der 24-Jährige nicht nur die richtigen Flanken braucht, sondern vor allem Selbstbewusstsein. Der große Selbstzweifler im deutschen Team könnte ein Star der WM werden, wenn er einen Lauf bekommt. Oder mal wieder, wie schon bei der Euro 2008, die große Enttäuschung.
Aber fehlt da nicht einer? Wer hat gegen Malta doppelt getroffen und gegen Ungarn schon wieder? Cacau. Der gebürtige Brasilianer mit dem Dauerlächeln hat als Gute-Laune-Bär schon einen Stammplatz und könnte auch als WM-Joker zu Einsatzzeit kommen. Aber nur als zweite Spitze. Für die Mittelstürmerposition kommt der Stuttgarter nicht in Frage - er ist einfach zu klein.