
Deutschland gegen Portugal Berti, Sergej und der Sommer der Einheit


Berti Vogts bei der Euro 1996
Foto: Gunnar Berning/ Bongarts/Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
An diesem Tag bin ich Sergej begegnet. Sergej stand am Straßenrand in der Nachmittagssonne irgendwo bei Quedlinburg und ruderte wild mit den Armen, als wir mit dem Auto vorbeifuhren. Als wir daraufhin anhielten, bot er uns seine Sowjetuniform zum Kauf an, zudem seinen Dienstausweis der Roten Armee, es sei sein letzter Tag in Deutschland, und ohnehin sei das Zeug ja jetzt komplett sinnlos. Für ihn und überhaupt. Morgen müsse er zurück nach Russland, sein letzter Tag war dieser 28. August 1990. Am Ende dieses langen Sommers, den man heute den Sommer der Einheit nennt. Am Abend spielte Deutschland gegen Portugal.
Genauer muss es natürlich heißen: Es spielte Deutschland West gegen Portugal. Es war das letzte Länderspiel vor der Einheit und gleichzeitig das erste Länderspiel nach dem WM-Titel 1990. Deutschland war Weltmeister in Rom geworden, die Wiedervereinigung stand kurz bevor, ich war Student, und mir passte das alles nicht.
Schaum-vor-dem-Mund-Reportage
Die DDR und Lothar Matthäus waren mir gleichermaßen fremd, für Heribert Faßbenders Schaum-vor-dem-Mund-Reportage aus dem WM-Achtelfinale gegen die Niederlande, als er und Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge den argentinischen Schiedsrichter Juan Carlos Loustau »in die Pampa schicken« wollten, hatte ich nur Scham übrig, das Wort »Fremdscham« war noch unbekannt. Die Währungsunion nahm ich eher am Rande wahr, aber der schöne Sommerfeiertag am 17. Juni verschwand und feierte im kühlen Oktober Wiederauferstehung. Es war ja nicht so, als ob der Westen keine Opfer gebracht hätte.

Uwe Bein gegen die Portugiesen, vermutlich gerade kurz vorm tödlichen Pass
Foto: SVEN SIMON / imago images / Sven SimonMit anderen Worten: Das war alles in allem ziemlich ignorant, arrogant, damals kam schnell der Begriff vom Besserwessi auf, ich war ganz bestimmt einer, und das passte mir dann auch wieder nicht.
Während um mich herum so viele in Taumelstimmung waren, stiegen mein Bruder und ich in jenem Sommer in Paderborn in unseren VW Käfer, himmelblau mit selbst gebastelten weißen Wolkenaufklebern drauf, und fuhren durch diese unbekannte Welt, die fünf neuen Länder, so hieß es damals. Eine Art Roadtrip durch das Land, in dem plötzlich an jeder Ecke eine Videothek stand.
Dass es das alles wirklich gab
Die Braunkohle in der Luft, Gotha, Weimar, das Bauernkriegspanorama von Bad Frankenhausen, Radebeul mit dem Karl-May-Museum, Villa Bärenfett und der Hobble-Frank, so vieles, von dem man nur gehört, gelesen hatte. Und es kam mir fast surreal vor, dass es das alles tatsächlich gab. Ich merkte mit jedem Kilometer, den wir fuhren: Ich hatte keine Ahnung von diesem Land, es war mir peinlich.
Der Name Frank Schöbel sagte mir nichts, die Schwalbe war für mich nur ein Vogel oder eine Aktion von Bernd Hölzenbein. Die DDR war für mich bis dahin vor allem eine Sportnation gewesen, das Land von Jürgen Sparwasser und Renate Stecher. Und »Zeit Online« mit ihren Ost-Erklärern, die mir das sicher alles verständlich gemacht hätten, gab es noch nicht.
Das Fußballspiel am Abend hörten wir im Autoradio, Übertragung aus Lissabon. Die deutsche Elf spielte mit all ihren Weltmeistern, Illgner, Berthold, Reuter, Kohler, Völler, Klinsmann, Brehme, Matthäus, Buchwald, Riedle, aber der Trainer war neu. An der Seitenlinie saß jetzt Berti Vogts, und das schien mir ein Akt voller Symbolik zu sein, wie in diesem Jahr so vieles mit Bedeutung überfrachtet wurde.

Berti Vogts wechselt in seinem ersten Spiel als Chefcoach den Nichtweltmeister Manfred Binz ein
Foto: imago imagesDer nonchalante Franz Beckenbauer, der über den Platz und durch das Leben schwebte, verabschiedete sich gleichzeitig mit der alten Bundesrepublik, ihm folgte Berti Vogts aus Korschenbroich, Berti, der auf dem Feld alles in Beckenbauers Umgebung weggegrätscht hat, damit der Kaiser huldvoll schreiten konnte. Der Weltmann geht, der Terrier kommt.
Weltmeister als Besitzstandswahrer
Es gab damals noch nicht in so großer Zahl die Leitartikler, die mit geradezu manischer Begeisterung Bundestrainer und Bundeskanzler miteinander vergleichen, wie sie es mit Joachim Löw und Angela Merkel tun. Sonst hätte es sicher auf den Kolumnenseiten Analogien geregnet zwischen dem Kanzler Helmut Kohl und dem treuen CDU-Wähler Berti Vogts. Beider Zeit ging parallel 1998 zu Ende, dafür sorgten Gerhard Schröder und Davor Šuker.
Ich weiß noch, dieses Länderspiel gegen die Portugiesen (heute erinnert sich fast keiner mehr an diese Partie) war mir wie ein Abbild der Zeit, die Weltmeister aus dem Westen kamen über ein schnödes 1:1 nicht hinaus. Ab sofort waren sie keine Himmelsstürmer mehr, die schon auf dem Brenner waren und bei der WM die Jugoslawen in Grund und Boden spielten, ab sofort waren sie vor allem Besitzstandswahrer.
Zur WM traten die beiden Kölner Pierre Littbarski und Thomas Häßler noch in lustigen Filmchen auf, die der damaligen ARD-Show »Dingsda« nachempfunden waren. Darin mussten Begriffe umschrieben werden, ohne den Namen des Begriffs selbst zu nennen. In der Show machten das normalerweise Kinder, und »Litti« und »Icke« waren die »Dingsda«-Kinder dieses Sommers. Unbeschwert, albern, sicher, dass sie Gewinner sind. Als sie den Titel hatten, alberten sie nicht mehr herum, sie waren jetzt die Titelverteidiger. Der WM-Titel wurde abgewickelt. Berti Vogts war sozusagen die Treuhand.
Sergej haben wir die Sachen nicht abgekauft, irgendwie kam uns das pietätlos vor. Ich hatte sogar den Eindruck, er war deswegen nicht böse. Aber was wusste ich schon? Ich wusste nichts.