

Hamburg - Zum Glück beginnt die Europameisterschaft erst in zwei Wochen! Deutschland hat im vorletzten Testspiel vor Turnierbeginn alles vermissen lassen, was das Team zuletzt auszeichnete. Die Abwehr ließ den Gegnern zu viel Freiraum, im Spiel nach vorne fehlten Ideen und Spielwitz, eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen war nur selten zu erkennen.
Gegen stark konternde, aber insgesamt auch nur mäßige Schweizer gab es so eine 3:5 (1:2)-Pleite. Überragender Spieler in Basel war Dreifachtorschütze Eren Derdiyok (21. Minute/23./50.), zudem trafen Stephan Lichtsteiner (67.) und Admir Mehmedi (76.) für die Schweiz. Mats Hummels (45.), André Schürrle (64.) und Marco Reus (72.) verkürzten zwischenzeitlich.
"So eine Leistung ist nicht erklärbar. Wir sollten nicht nach Ausreden suchen. Das ist reine Kopfsache. Wir haben mit der ganzen Mannschaft nicht gut gestanden", so Ersatz-Kapitän Miroslav Klose. Abwehrchef Per Mertesacker sagte: "Wir haben zum Glück noch ein wenig Zeit. Das ist die beste Erkenntnis aus diesem Spiel."
Fünf Gegentore in einem Spiel kassierte Deutschland zuletzt im April 2004 beim 1:5 in Rumänien. Dem DFB-Team bleibt vor dem EM-Start gegen Portugal am 9. Juni nun nur noch die Partie gegen Israel am kommenden Donnerstag (20.30 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE).
Ohne die nach der Pleite im Champions-League-Finale noch mit Freizeit bedachten Bayern-Spieler wagte Bundestrainer Joachim Löw einige Experimente. Im letzten Spiel vor der endgültigen Kadernominierung am Dienstag, bei der noch vier Spieler aus dem derzeitigen 27er-Kader gestrichen werden müssen, bekam Marc-André ter Stegen im Tor eine Chance. Zudem bot Löw in Sami Khedira nur einen nominellen defensiven Mittelfeldspieler auf. Vor ihm spielte eine offensive Vierreihe bestehend aus Lukas Podolski, Mesut Özil, Mario Götze und André Schürrle. Miroslav Klose startete als einziger Stürmer.
Es war ein Versuch. Er ging nicht auf.
Von Beginn an merkte man dem DFB-Team die ungewohnte Zusammensetzung an. Im Spiel nach vorne waren zuletzt gezeigte Kombinationen die Ausnahme, dafür gab es im Spielaufbau immer wieder Ballverluste. Die Schweizer machten es sich zunächst in der Defensive bequem - und nutzten die Fehler der Deutschen dann brutal aus.
Tranquillo Barnetta zog über die linke Seite das Tempo an und bediente anschließend Derdiyok, der im Zentrum allein gelassen wurde und an ter Stegen vorbei zum 0:1 einschob (21.). Doch damit nicht genug: Nur zwei Minuten später bediente Barnetta wieder Derdiyok, wieder stand der Stürmer frei, wieder traf er - 0:2, 23. Minute.
Derdiyok verpasst Hattrick innerhalb von sieben Minuten
Und es hätte noch schlimmer kommen können. Erneut nur zwei Minuten später stand Derdiyok wieder frei vor ter Stegen, vergab aber einen Hattrick innerhalb von nur sieben Minuten. Auch in der Folgezeit ging nur von den Schweizern Torgefahr aus, Mehmedi (30.) verpasste mit seinem Distanzschuss nur knapp das Tor.
Deutschland hingegen blieb in der gesamten ersten Hälfte ohne Chance aus dem Spiel heraus. Doch es ist auch eine Qualität dieser Mannschaft, dass sie dann trotzdem noch ein Tor schießt. Kurz vor dem Seitenwechsel köpfte Hummels (45.) nach einem Freistoß von Mesut Özil den Anschlusstreffer.
Nach der Pause schien das DFB-Team zu einer Aufholjagd gewillt, Miroslav Klose (49.) kam nach einem Eckball des eingewechselten Reus zu einer guten Chance. Es blieb ein kleiner Lichtblick. Denn im Gegenzug war wieder Derdyiok-Zeit. Nur eine Minute später erhöhte der künftige Hoffenheimer auf 3:1, die Vorlage kam - wie sollte es anders sein - erneut von Barnetta.
Benaglio und ter Stegen patzen
In einer ohnehin unterhaltsamen Partie sorgten dann die beiden Torhüter für weiteres Spektakel. Zunächst ließ Diego Benaglio einen eigentlich harmlosen Fernschuss von Schürrle (65.) passieren. Doch die Hoffnung der Deutschen währte nur kurz, ter Stegen machte sie mit einem Patzer zunichte. Nach einer Flanke von Gökhan Inler wollte der Gladbacher den Ball rausfausten, kam aber zu spät und musste mit ansehen, wie Lichtsteiner zum 4:2 köpfte.
Dann war wieder Benaglio dran. Der Wolfsburger Keeper ließ einen Schuss von Julian Draxler in die Mitte abklatschen, Reus staubte ab. Die Partie bekam nun immer mehr Trainingskick-Charakter. So fiel der letzte Treffer nach einer Freistoßvariante, in deren Folge zunächst Reto Ziegler an den Pfosten schoss und dann Mehmedi einschob.
Drei Minuten vor Spielende hätte Gelson Fernandes das Debakel für die deutsche Mannschaft noch verschlimmern können, traf aber nur die Latte. Es war aber auch ohne ein weiteres Gegentor schlimm genug.
Schweiz - Deutschland 5:3 (2:1)
1:0 Derdiyok (21.)
2:0 Derdiyok (23.)
2:1 Hummels (45.)
3:1 Derdiyok (50.)
3:2 Schürrle (64.)
4:2 Lichtsteiner (67.)
4:3 Reus (72.)
5:3 Mehmedi (76.)
Schweiz: Benaglio - Lichtsteiner, Senderos, von Bergen, Ziegler - Inler, Fernandes ab 90.+2 Djourou - Barnetta ab 77. Stocker, Xhaka ab 90. Wiss, Mehmedi - Derdiyok
Deutschland: ter Stegen - Höwedes ab 78. Sven Bender, Mertesacker, Hummels, Schmelzer - Khedira ab 46. Gündogan - Schürrle, Götze ab 78. Lars Bender, Özil ab 46. Reus, Podolski ab 62. Draxler - Klose ab 77. Cacau
Schiedsrichter: Antony Gautier (Frankreich)
Zuschauer: 27.381
Gelbe Karten: Inler - Hummels
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Joachim Löw grübelt: Der Bundestrainer muss noch einige Spieler aus dem DFB-Kader streichen - das Testspiel gegen die Schweiz sollte ihm einige Anhaltspunkte bringen, auf welche Spieler er verzichten kann.
Sami Khedira (Mitte) gehörte zu den für die EM gesetzten Spielern.
Im Tor debütierte der Gladbacher Keeper Marc-André ter Stegen - und der musste gleich früh zweimal hinter sich greifen.
Der Grund: Eren Derdiyok (links). Der Schweizer Angreifer, der ab der kommenden Saison für 1899 Hoffenheim auf Torejagd gehen wird, konnte...
...ter Stegen gleich zweimal überwinden.
Jubel: Mit so wenig Gegenwehr hatten die Schweizer sicher nicht gerechnet.
Torhüter ter Stegen war dementsprechend bedient. So hatte er sich sein Debüt sicher nicht vorgestellt.
Hoffnung vor der Halbzeit: Innenverteidiger Mats Hummels konnte den Anschluss erzielen.
Verhaltener Jubel: Angesichts des Spielverlaufs war dem Dortmunder allerdings nicht nach ausgelassener Feierei zumute.
Nach der Pause war der deutsche Jubel dann schnell wieder vorbei. Erneut sorgte Derdiyok für den dritten Schweizer Treffer.
Das gefiel Bundestrainer Löw natürlich überhaupt nicht.
Hoffnung kam noch bei André Schürrles Treffer zum 2:3 auf, doch ter Stegen sorgte mit einem Torwartfehler dafür, dass Stephan Lichtsteiner erneut für die Schweiz erhöhen konnte. Nun war der Sommerkick im vollen Gange. Zunächst traf Marco Reus zum 3:4, dann legte...
...Mehmedi (rechts) zum 5:3 für die Schweiz nach.
Marc-André ter Stegen (Tor, Borussia Mönchengladbach): Kein schönes Debüt für den Mönchengladbacher. Die ersten beiden echten Torgelegenheiten für die Schweizer wurden gleich zu Treffern, an denen er chancenlos war. Wurde immer wieder allein gelassen von seinen Vorderleuten, sah zudem beim vierten Tor unglücklich aus. Ansonsten konnte er wenig ausrichten an dem, was sich da vor ihm an Chaotischem auftat. In der Spieleröffnung hat der 20-Jährige zudem seine Schwächen, so mancher Abschlag kam postwendend zurück. Seine Chancen, zur EM zu fahren, konnte er jedenfalls nicht drastisch steigern.
Benedikt Höwedes (Abwehr, Schalke 04, bis 78. Minute): Der Schalker ist einfach kein außergewöhnlicher Außenverteidiger. Seine Stärken liegen im Deckungszentrum, das wurde gegen die Schweizer wieder einmal schmerzlich deutlich. Die ersten beiden Treffer fielen über seine Abwehrseite. Höwedes ist auf der rechten Abwehrseite eine Notlösung. Philipp Lahm wird dringend gebraucht.
Mats Hummels (Abwehr, Borussia Dortmund): In Dortmund der unumschränkte Boss der Meister-Abwehr, in der Nationalmannschaft zum wiederholten Male fahrig, unsicher, ohne alle Souveränität. Als gäbe es zwei verschiedene Mats Hummels'. So viele Stellungsfehler wie in der ersten Halbzeit hat Hummels mutmaßlich in der gesamten Ligasaison nicht produziert. In dieser Verfassung muss sich Bayern-Verteidiger Holger Badstuber gar keine Sorgen um seinen Stammplatz machen. Hummels kompensierte seine Abwehrfehler immerhin leidlich mit dem Kopfballtor zum 1:2-Anschlusstreffer.
Per Mertesacker (links, Abwehr, FC Arsenal): Im französischen Trainingslager gab der Arsenal-Profi schon wieder die Kommandos, als sei er nie ein halbes Jahr verletzt gewesen. Im Spiel dagegen wirkte er zuweilen, als mache er seine ersten Gehversuche auf dem Fußballfeld nach seiner langen Pause. Mindestens so unsicher wie sein Nebenmann Hummels. Bei drei Gegentoren verdiente er sich einen Assist-Point.
Marcel Schmelzer (Abwehr, Borussia Dortmund): Der Dortmunder Linksverteidiger gilt als ein Kandidat für die Startelf der EM. Am Samstag wirkte er dafür aber noch überhaupt nicht reif. Eifrig, aber oft auch übereifrig. Beim ersten Gegentor war er das letzte Glied in einer ausgedehnten Fehlerkette. Schmelzer muss noch zulegen.
Sami Khedira (Mittelfeld, Real Madrid, bis 46. Minute): Der Madrilene mühte sich nach Kräften mit der ungewohnten Aufgabe, die Sechser-Position allein und ohne Nebenmann auszufüllen. Dadurch war er gezwungen, Spielmacherqualitäten zu entwickeln. Das ist nicht seine Stärke. Ein Experiment ohne große Zukunft. Khedira ist der perfekte Sidekick für einen Bastian Schweinsteiger. Er ist kein Leader. Nach 45 Minuten wurde er von Ilkay Gündogan ersetzt.
Mario Götze (Mittelfeld, Borussia Dortmund, bis 78. Minute): Der junge Dortmunder befindet sich erstmals in seiner Shootingstar-Karriere an einem Scheideweg. Nach seiner langen Verletzung ist er nicht mehr der große Hoffnungsträger des deutschen Fußballs, er ist derzeit nur noch einer unter vielen im Mittelfeld. Seine Vorstellung in Basel trug nicht viel dazu bei, diesen Eindruck zu korrigieren. In der zweiten Hälfte aber immerhin bemühter. Wie Götze sich bei der EM präsentieren wird und ob er dazu überhaupt Gelegenheit bekommt, ist eine der ganz großen Unbekannten des kommenden Turniers. Lars Bender spielte für ihn ab der 79. Minute.
Mesut Özil (Mittelfeld, Real Madrid, bis 46. Minute): Selbst ein schwacher Mesut Özil gehört im deutschen Team aufgrund seiner überragenden Qualitäten zu den Besseren in der Mannschaft. In einer zeitweise desorientierten Elf war er so etwas wie ein Anker. Aber nach 45 Minuten war auch für ihn Schluss. Marco Reus kam für ihn in die Partie.
André Schürrle (Mittelfeld, Bayer Leverkusen): Der Leverkusener auf dem Flügel lief viel, aber er lief auch sehr viel ins Leere. Schürrle ist der perfekte Joker im Angriffsspiel. In der Startaufstellung von Basel strahlte er dagegen vor allem in der ersten Halbzeit wenig Wirkung, wenig Torgefahr aus. In der zweiten Halbzeit zwar eindeutig fleißiger, dennoch in dieser Form keine echte Konkurrenz zu Podolski oder Thomas Müller. Was ihn allerdings als Offensivkraft auszeichnet: Schürrle trifft selbst in solchen Spielen.
Lukas Podolski (Mittelfeld, FC Arsenal, bis 62. Minute): Podolski wirkte im Traininglager des DFB noch fitter als alle seine Mitspieler, austrainiert, top in Form. Auf dem weiten Weg von der Provence nach Basel war das allerdings verlorengegangen. Der künftige Londoner spielte so, wie man ihn zuweilen in der DFB-Elf erlebt: unauffällig. Seine Hauptwaffen, der explosive Antritt und der beeindruckende Linksschuss, blieben in Südfrankreich. Nach einer Stunde machte er Platz für Debütant Julian Draxler.
Miroslav Klose (Angriff, Lazio Rom, bis 77. Minute): Das 115. Länderspiel des Römers war eines, was er nicht lange im Gedächtnis behalten sollte. Bei Klose und dem sensiblen Verhältnis, das er zu seinem Körper hat, ist vor einem Turnier aber auch anderes viel wichtiger: Verletzt er sich, geht er angeschlagen aus der Partie? Das immerhin war nicht der Fall. Er wird bei der EM schon zeigen, wozu er noch fähig ist. In Basel versteckte er es gut. Cacau kam für ihn nach 77 Minuten.
Ilkay Gündogan (Mittelfeld, Borussia Dortmund, ab 46. Minute): Kam zur zweiten Hälfte mit der für einen Mittelfeldspieler ungewohnten Rückennumer zwei. Kämpfte, zeigte Einsatz. Um den Bundestrainer davon zu überzeugen, ihn partout zur EM mitzunehmen, reichte das allerdings nicht.
Julian Draxler (Mittelfeld, Schalke 04, ab 62. Minute): Erstes Länderspiel für den 18-Jährigen. Der junge Schalker wirkte durchaus beeindruckt von diesem Erlebnis. Draxler hat aber auch noch so viel Zeit. Die EM wird noch ein wenig früh für ihn kommen. Seine Zeit ist danach.
Marco Reus (Mittelfeld, Borussia Mönchengladbach, ab 46. Minute): Der künftige Dortmunder fügte sich mit ein paar gelungenen Dribblings und Zuspielen gleich gut ein. In der in der zweiten Hälfte aktiveren deutschen Mannschaft ragte er heraus. Der Noch-Gladbacher belohnte sich selbst mit dem dritten deutschen Treffer. Reus zumindest hat die Form aus der Saison in die EM-Vorbereitung hineingerettet. Einer.
Lars und Sven Bender (Mittelfeld, Bayer Leverkusen/Borussia Dortmund, ab 78. Minute): Immerhin doch noch was Historisches an diesem ansonsten wenig geglückten Fußballabend aus Sicht des DFB. Ein Zwillingspaar auf dem Spielfeld - das hatte es seit den Kremers-Brüdern in den siebziger Jahren nicht gegeben. Das wird bleiben von diesem Abend in Basel. Viel mehr allerdings nicht. (Im Bild: Sven Bender)
Cacau (Angriff, VfB Stuttgart, ab 77. Minute): Selbst der lustige Cacau konnte diesem Spiel keine Wende zur Fröhlichkeit mehr geben. Er hatte aber auch nur wenig Zeit dazu. Für den Stuttgarter mittlerweile ein gewohntes Gefühl.
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