DFB-Chefscout Siegenthaler "Was Spanien zeigt, ist Löws Idealfußball"

DFB-Scout Siegenthaler: Stundenlange Spielanalysen
Foto: Alexander Hassenstein/ Bongarts/Getty ImagesFrage: Herr Siegenthaler, kann Spanien Sie noch überraschen?
Siegenthaler: Mich? Nein. Und auch unser Team und die Trainer nicht. Wir wissen, was uns erwartet. Die spanischen Spieler sind alle aus der Champions League bestens bekannt. Wir wissen, wie Andrés Iniesta spielt, wir kennen Xabi Alonso, Xavi, Fernando Torres. Dem Bundestrainer geht es vor dem Halbfinale nur noch um Insider-Informationen, um Details. Und die konnten wir ihm bisher immer liefern.
Frage: Hat Sie denn die deutsche Mannschaft bei dieser WM überrascht?
Siegenthaler: Das soll jetzt nicht überheblich klingen. Aber aufgrund der intensiven Vorbereitung seit Januar muss ich sagen: nein. Wenn man mit einem klaren Konzept arbeitet und so strategisch vorgeht wie der Bundestrainer, dann kommen eben auch die Fortschritte. Sie können das mit einem Englischkurs vergleichen: Nach acht Wochen spricht man mit der größten Wahrscheinlichkeit besser Englisch - aber man muss eben erst mal den Kurs besuchen und braucht einen guten Lehrer.
Frage: Deutschland und Spanien, das war das EM-Finale. Hätte es nicht eigentlich auch das WM-Finale sein müssen?
Siegenthaler: Wenn ich es mir hätte wünschen dürfen, ja.
Frage: Ist Deutschland mit Spanien auf Augenhöhe?
Siegenthaler: Ich glaube, dass Spanien überrascht ist von Deutschland. Wir sind von Spanien nicht überrascht. Das, was Spanien im Moment zeigt, ist ja Löws Idealvorstellung vom Fußball. Wer träumt nicht vom FC Barcelona oder früher von Real Madrid? Aber Spanien ist nicht erst seit heute gut, Spanien ist Europameister, Spanien wäre auch bei der WM 2006 ein klarer Titelkandidat gewesen, wären sie nicht so unglücklich ausgeschieden. Das ist ganz bestimmt eine goldene Generation.
Frage: Man liest viel über die Weiterentwicklung der deutschen Mannschaft. Hat sich auch Spanien verbessert in den vergangenen zwei Jahren?
Siegenthaler: Wenn man schon fast perfekt Englisch spricht, ist es schwierig, noch Fortschritte zu erzielen. Das ist mühsam. Genauso mühsam wie die letzten fünf Prozent aus einer Zitrone zu pressen. Die spanische Mannschaft hat eine perfekte Ordnung auf dem Platz, sie ist kaum aus dem Konzept zu bringen, das Team ist selbstsicher, aber nicht überheblich. Die Spanier wissen, was sie können.
Frage: Sie sagten mal, Fußballspieler haben Vorlieben, und Ihre Aufgabe sei es, diese zu ergründen. Welche Vorlieben haben die Spanier?
Siegenthaler: Sie sind ein stolzes Volk und sehr korrekt. Ich habe 70-jährige Leute gesehen, die sich an der Hand halten, sie sind sauber gekleidet, sie mögen das Traditionelle. Auch in einem Stierkampf geht es viel um Stolz. Sie sind dazu nie unfair, sie überschreiten keine Grenzen. Haben Sie schon mal ein Skandalspiel des FC Barcelona gesehen? Wenn sie verlieren, dann gehen sie zum Gegner und sagen: "Wir waren heute nicht gut drauf." Aber Frustfouls mit gestrecktem Fuß sieht man bei den Spaniern nicht. Sie leisten sich keine Ausraster, dazu sind sie zu stolz und zu selbstkritisch.
Frage: Ein Nationalteam spielt so, wie die Mentalität des Landes ist?
Siegenthaler: Ja, das denke ich.
Frage: Gibt es eine Nationalmannschaft, die völlig anders spielt, als man es von der Mentalität erwarten würde?
Siegenthaler: Nein. Unter Druck greift jeder darauf zurück, was einen ausmacht. Immer!
Frage: Das meinte wohl auch Bastian Schweinsteiger, als er alle Argentinier über einen Kamm scherte.
Siegenthaler: Er wollte nicht alle Argentinier kritisieren.
Frage: Was sagen Sie zu den Afrikanern bei dieser WM?
Siegenthaler: Ich habe deren schwaches Abschneiden erwartet. Sie haben wunderbare Spieler, die alle in Europa spielen. Aber bei dieser WM in Südafrika fallen sie in alte Muster zurück. Es ist keiner da, der alles regelt, kein Anführer wie Zidane, der sagt: "Hey, spiel einfach Fußball." Und so ist der Einzelne dann vielleicht nicht mehr so zuverlässig, nicht so korrekt wie in seinem europäischen Club.
Frage: In welches Muster fällt der Deutsche unter Druck zurück?
Siegenthaler: Das zu verhindern, ist die ganz große Aufgabe des Bundestrainers.
Frage: Was genau muss er verhindern?
Siegenthaler: Dass wieder quer gespielt wird und mit weiten Bällen nach vorn. Aber die Mannschaft hat bewiesen, dass sie das nicht macht.
Frage: Es wäre das deutsche Sicherheitsdenken?
Siegenthaler: Ja, bringen wir es auf einen Nenner: Sie würden das Spiel verwalten, statt das Spiel zu spielen.
Frage: Herr Siegenthaler, wie kann man Spanien schlagen? Gibt es ein Muster, in das die Spanier zurückfallen könnten?
Siegenthaler: Ich denke, dass ich dem Trainer zwei, drei gute Hinweise geben kann.
Frage: Die haben Sie auch schon Ottmar Hitzfeld gegeben, der mit der Schweiz die Spanier geschlagen hat.
Siegenthaler: Ich habe zum Ottmar wirklich ein Freundschaftsverhältnis, aber Tipps für das Spanien-Spiel habe ich ihm nicht gegeben.
Frage: Sie vergleichen Fußball mit Englischlernen - und sagen im Prinzip nichts anderes, als dass Erfolg planbar sei.
Siegenthaler: Ja, das ist so, davon bin ich zutiefst überzeugt. Sonst wäre ich nicht bei diesem Bundestrainer.
Siegenthaler über stundenlange Spielanalysen und überschätzte Spieler
Frage: Sie haben früh behauptet, dass bei dieser WM Offensivfußball zum Erfolg führen wird. Was hat Sie so sicher gemacht?
Siegenthaler: Ich hatte schon nach dem Afrikacup im vergangenen Jahr intensivsten Kontakt mit dem Bundestrainer. Wir haben uns gefragt: "Halt, Stop, wo beginnt eigentlich das Fußballspiel?" Womit kannst du Erfolg haben, was ist wichtig beim Fußball? Die Antwort lag auch in der Offensive, und das hat sich jetzt belegt.
Frage: In der Defensive scheint es keine gravierenden Leistungsunterschiede bei dieser WM gegeben zu haben.
Siegenthaler: In drei Vierteln des Spielfelds sind tatsächlich alle 32 Mannschaften sehr gut. Aber im letzten Viertel, in der Offensiventwicklung, hatten oder haben alle Probleme. Alle, mit Ausnahme von den Niederlanden, Spanien und Deutschland.
Frage: Woher kommt das?
Siegenthaler: Jahrelang hat sich jeder Trainer mit der Defensive beschäftigt, "aufrücken", "verschieben", "kompakt stehen", das sind ja Schlagworte, die mittlerweile jeder kennt. Aber wir haben uns zu wenige Gedanken gemacht über die Offensive. Das ist auch ungemein schwer zu unterrichten. Andere Sportarten sind uns da maßgeblich voraus, Handball, Basketball, Eishockey, dort sind Spielzüge einstudiert. Es ist mir völlig klar, dass das im Fußball nicht so einfach ist, aber wir haben und hatten nicht die Trainer, die darauf spezialisiert waren.
Frage: Manche Teams bei dieser WM wirkten recht chaotisch in ihrem Angriffsspiel.
Siegenthaler: Sie könnten jetzt zu mir ins Büro kommen und ich könnte Ihnen Szenen zeigen, da denken Sie: Ist das nicht eine Jugendmannschaft? Da stehen sechs Mann im Zentrum und alle rennen dem Ball nach. Rechts und links ist kein Mensch.
Frage: Früher hat man gesagt, die deutschen Spieler tun sich schwer mit taktischen und theoretischen Vorgaben. Hat sich das geändert in den vergangenen sechs Jahren?
Siegenthaler: Die Trainer leben das vor. Sie denken sehr modern und wehren sich nicht gegen Neues. Wenn ich morgen vorschlagen würde, am Tisch schwedisch zu reden, wäre der Trainer offen dafür und würde nach dem Sinn fragen. Das ist eine Fähigkeit von Hansi Flick, Andreas Köpke und auch Joachim Löw, so was aufzunehmen und auch kritisch zu hinterfragen. So war es auch mit den Taktiktrainings. Die Mannschaft hatte sicher vor ein paar Jahren noch nicht diese Freude daran. Heute gehört das zum Tagesprogramm wie essen und schlafen.
Frage: Ist es die wichtigste Erkenntnis des Turniers, dass Mannschaften jung sein müssen, um erfolgreich zu sein? Und nicht erfahren?
Siegenthaler: Meine sehr persönliche Antwort darauf ist folgende: Viele Spieler werden maßlos überschätzt. Sie haben einen Namen, dem sie nicht mehr gerecht werden.
Frage: Ist das auch der Grund, warum die alten, großen Fußballnationen wie Frankreich oder Italien nach Hause fahren mussten?
Siegenthaler: Es gibt Unterschiede. Ich habe Respekt vor großen Nationen, mir steht es nicht zu, diese zu kritisieren. Frankreich hat ein Konzept in der Jugendausbildung, in der Förderung guter Fußballer. Dort lag das Problem eher in der Führung.
Frage: Und Italien?
Siegenthaler: Italien ist Weltmeister geworden, aber schon beim Confederations Cup habe ich mich gefragt: Wollen die wirklich immer noch mit acht Weltmeistern agieren? Oder gehen wir in die italienische Meisterschaft. Da kommen kaum Talente nach. Die Clubs kaufen sich jeden zweiten Spieler. Die jungen italienischen Spieler verkümmern, weil sie an Zweit- oder Drittligisten verliehen werden.
Frage: Wenn Sie auf der Tribüne sitzen und ein Spiel beobachten: Gab es schon mal eine Situation, in der Sie sagten: Oh, das habe ich vorher noch nicht gesehen?
Siegenthaler: Nein, das gab es in sechs Jahren noch nicht.
Frage: Und wie halten Sie Ihre Eindrücke fest?
Siegenthaler: Früher habe ich alles in ein Diktafon gesprochen. Heute notiere ich mir die Minute der Szene, die ich mir noch einmal anschauen will. Sie müssen sich das so vorstellen: Wenn wir jetzt hier durch dieses Teamhotel laufen, dann sagen Sie, die Deutschen wohnen schön. Und dann kommen Sie morgen wieder, und wir laufen wieder durchs Haus. Plötzlich sagen Sie: Oh, das hier habe ich gestern gar nicht gesehen. Es geht um Details, und dafür braucht es diese Nähe zu dieser Arbeit, dieses Verstehen. Ich bin ja von Beruf Architekt, das hilft.
Frage: Gucken Sie also ein Fußballspiel mit den Augen eines Architekten?
Siegenthaler: Insofern, als dass ich die Bereitschaft habe, öfter hinzuschauen. Es ist viel einfacher, gegen einen schwachen Gegner zu spielen, weil man relativ rasch Lösungen sieht. Aber es wird verdammt schwierig, wenn es Spanien ist.
Frage: Wie lange brauchen Sie, um das Spiel einer Mannschaft zu entschlüsseln?
Siegenthaler: Das ist Knochenarbeit. Ich saß vor dem Argentinien-Spiel zwölf Stunden am Bildschirm. Und auch vor dem Spanien-Spiel gab es wieder viel zu tun.
Frage: Sind die Spanier so schwierig zu knacken?
Siegenthaler: Spanien macht es uns etwas schwieriger als Argentinien.