Nationalmannschaft Wie Bett beziehen mit einem zu kurzen Laken

Kai Havertz (r.) und Bundestrainer Joachim Löw
Foto: Mika Volkmann / imago images/Mika VolkmannJoachim Löw sieht gerade nicht gut aus. So, als zerrten Kräfte an ihm. Die Mundwinkel hängen mehr als früher, die Falten scheinen tiefer und die Haut wirkt fahler.
Eigentlich wirkte der Bundestrainer immer wie jemand, der scheinbar nicht altert. Der sich selbst in schweren Momenten eine gewisse Erhabenheit und Strahlkraft erhielt. Als Löw im August 2018 nach der blamablen WM seinen Plan für den Neuaufbau in München der Presse präsentierte und sich später selbst der Arroganz bezichtigte, lächelte der 60-Jährige freundlich in die Gesichter der Journalisten.
Dienstagnacht lächelte Löw nicht. Er saß mit verschränkten Armen bei der Pressekonferenz nach dem 3:3 gegen die Schweiz in Köln. Er sagte: "Wenn ich auf all die Kritik im Moment hören würde, hätte ich keine Zeit mehr, die Arbeit mit der Mannschaft zu machen." Löw sah dabei so erschöpft aus wie selten in seinen 16 Jahren als Bundestrainer.
Jedes Spiel zwei Gegentore im Schnitt
Die deutsche Fußballauswahl der Männer ist kein normales Team. Sie ist eine neue Mannschaft mit einem alten Trainer, für den sie die Chance bietet, sich zu rehabilitieren. Löw war Weltmeister, dann WM-Gruppenletzter. Jetzt will er beweisen, dass er noch immer eine Mannschaft zu Erfolgen führen kann. Doch das kostet ihn gerade sehr viel Kraft.
Das Problem ist nämlich, dass sich sein Team acht Monate vor der EM im nächsten Sommer mehr zurückzuentwickeln scheint, als Fortschritte zu machen. Dafür lieferten die drei Länderspiele im Oktober Indizien.
Gegen die nicht zur Weltspitze zählenden Teams aus der Türkei (3:3), der Ukraine (2:1) und der Schweiz (3:3) kassierte Löws Mannschaft sieben Gegentore. In den elf Spielen davor seit dem Umbruch im März 2019 waren es bei besseren Gegnern wie Spanien, Niederlande und Argentinien im Schnitt nur halb so viele (insgesamt zwölf Gegentore).
"Wir haben hinten Fehler gemacht", sagte Löw über das Spiel gegen die Schweiz und untertrieb damit. Seine ganze Mannschaft wirkte nicht ausbalanciert zwischen offensivem Drang und defensiven Beharrungskräften. Antonio Rüdiger und Matthias Ginter im Zentrum der Viererkette sahen aus, als hätten sie sich erst kurz vor Anpfiff kennengelernt. Während Rüdiger die heranstürmenden Schweizer attackierte, ließ sich Ginter mehrfach tief im Raum zurückfallen und hob so das Abseits bei Schweizer Pässen auf, wie vor dem 0:2. Mit drei eigenen Toren kam Deutschland immerhin noch zu einem Remis.
Die fehlende Balance
Eine mangelhafte Balance war auch schon gegen die Ukraine am Samstag zu besichtigen - nur genau andersherum. Da hatte Löw mit einer Dreier- statt einer Viererabwehrkette wie gegen die Schweiz spielen lassen. Defensiv ließ sein Team dann auch fast nichts zu, doch im Angriff mangelte es an Ideen und Dynamik.
Löw versucht seit geraumer Zeit, seine Mannschaft richtig auszutarieren. Aber man muss ihn sich dabei vorstellen wie beim Bett beziehen mit einem zu kurzen Laken: Wenn er die eine Ecke abgedeckt hat, entblößt sich am gegenüberliegenden Ende eine andere.
Am besten verdeutlichen lässt sich das an der Personalie Kai Havertz.

Kai Havertz (M.) war gegen die Schweiz an allen drei deutschen Treffern beteiligt
Foto: SASCHA STEINBACH/EPA-EFE/ShutterstockGegen die Schweiz war der 21 Jahre junge Offensivspieler vom FC Chelsea der beste DFB-Akteur. Havertz schoss das 2:2 selbst und hatte auch an den beiden anderen Treffern seinen Anteil. "Kai hat ein gutes Spiel gemacht", lobte Löw, "man sieht einfach seine Fähigkeiten am Ball, seine Pässe in die Spitze." Der Letzte, der derart einfallsreich im Nationalteam spielte, hieß Mesut Özil.
Vor Özils Rücktritt nach der WM 2018 sah Löw meist die Position hinter der Spitze in einem 4-2-3-1-System für ihn vor, wo er seine Fantasie einbringen konnte. Doch diese freigeistige Rolle opfert der Bundestrainer nun oft, weil seine Mannschaft defensiv so instabil wirkt. In den vier Partien vor dem Schweiz-Spiel hatte Löw jeweils einen Spieler aus dem Mittelfeld heraus- und dafür einen anderen in eine Dreierabwehr hineingetan. Eine Mannschaft muss so nicht zwangsläufig defensiver auftreten, nur fehlen Löw die richtigen Spieler, um ein 3-4-3 sehr offensiv zu interpretieren.
Das Spiel gegen die Schweiz hat nun gezeigt: Mit Havertz auf dem Feld deckt Löw die Problemzone Ideenmangel besser ab, entblößt aber aus systemischen Gründen eine andere - die wacklige Defensive. Ohne die von Havertz besetzte Extraposition im Mittelfeld steht die Abwehr zwar stabiler, aber es mangelt dann eben an Zauber im Angriff.
ARD-Experte Bastian Schweinsteiger sagte am Dienstagabend einen passenden Satz: "Man hat heute die Wahrheit gesehen, wie es aktuell bei uns aussieht." Der ehemalige Nationalelf-Kapitän meinte die Defensivschwäche einerseits, aber auch die Comeback-Qualitäten mit guten Angriffen andererseits. Zur Wahrheit gehört, dass die deutsche Elf im Moment immer nur eines zeigen kann: entweder brauchbar verteidigen oder brauchbar angreifen. Beides zusammen, wie es ein Topteam kann, das geht nicht.
Bundestrainer Joachim Löw
Vor einem Jahr wirkte die DFB-Auswahl auf dem Papier schon weiter in ihrer Entwicklung, als man gegen die Niederlande 3:2 gewann und gegen Argentinien 2:0 zur Halbzeit führte. Solche Teams sind der Gradmesser auf dem Weg zurück zur Weltspitze. Doch bei genauerer Betrachtung konnte Löws Elf schon damals immer lediglich eine Sache gut: angreifen oder verteidigen. Nur, dass sich dies innerhalb der einzelnen Spiele von Hälfte zu Hälfte unterschied. Gegen die Niederlande führte Deutschland ebenfalls 2:0 und musste dann den Ausgleich hinnehmen, bevor doch noch der etwas glückliche Siegtreffer gelang. Und Argentinien kam im Oktober 2019 noch zu einem 2:2 im zweiten Durchgang.
"Diese Mannschaft hat wirklich Potenzial", beteuerte Löw, bevor er Dienstagnacht die Kölner Arena verließ, "wenn wir ein paar Dinge korrigieren, werden wir wieder Freude haben." Möglich ist das durchaus. Die Frage ist nur, wann es so weit sein wird, und ob der Bundestrainer dann noch Löw heißen wird.
Intern hat der DFB eine Untersuchung angestellt. Wie lange haben Teams wie Spanien, Italien oder Frankreich, die als Weltmeister schwere Abstürze erlebten, gebraucht, um wieder zurück auf Topniveau zu finden? Das Ergebnis lautete: sechs Jahre. So viel Zeit wird Joachim Löw wohl nicht bekommen.