DFB-Sieg gegen England Löws Welt-Meisterprüfung
England hätte Deutschland besiegt. Der Ball lag plötzlich vor Frank Lampard, segelte langsam Richtung Tor, senkte sich über Manuel Neuer, sprang hinter der Linie auf, prallte ein weiteres Mal an die Latte, bevor Neuer den Ball fing. Hätte Schiedsrichter Jorge Larrionda dieses Tor gegeben, das eines war, hätte England Deutschland besiegt.
Glaubt Fabio Capello.
Der Trainer der Engländer, grauer Anzug und ein Gesicht aus Stein, sitzt vor Hunderten Journalisten in einem weißen Zelt und sagt Worte wie "unfassbar" oder "man muss über die Leistung des Schiedsrichters reden". Sein Team sei besser gewesen als Deutschland "in dieser Phase", und dann verwehrt der Schiedsrichter England den Ausgleich. Diese Phase, drei Minuten zwischen dem 1:2-Anschluss und dem Lampard-Schuss, habe das Spiel entschieden. Für Fabio Capello gibt es in diesem Moment kein 1:4-Debakel und auch keine überlegene deutsche Mannschaft. Es gibt nur "diese Phase". Im Zelt schütteln selbst englische Journalisten den Kopf.
Auch Joachim Löw hat über diese Phase gesprochen, nach dem Spiel. Er nannte sie "eine kurze, kritische Phase". Nicht mehr und schon gar nicht entscheidend. Zu klein wirkte sie im Vergleich zu den 70 Minuten, die Fabio Capello offenbar schon vergessen hatte. Oder vergessen wollte.

Nicht gegebenes Lampard-Tor: "Die Rache für Wembley"
70 Minuten, in denen England planlos angerannt war und Deutschland planvoll gekontert hatte. In denen die Mittelfeldspieler Steven Gerrard und James Milner immer wieder zu Angreifern wurden und so die Spielfeldmitte entblößten. In denen sich Verteidiger John Terry ein ums andere Mal von Miroslav Klose herauslocken ließ und sich so Lücken zwischen Zentrale und Außenverteidigern öffneten wie Fahrstuhltüren - und in denen dann Thomas Müller oder Mesut Özil auftauchten. 70 Minuten, die genau so liefen, wie es Joachim Löw geplant hatte.
Es wirkt deshalb im Rückblick fast peinlich von Capello, die Niederlage seiner Mannschaft nur auf den Schiedsrichter zu schieben - und kein einziges Wort über den wahren Schuldigen für das Debakel zu verlieren: den deutschen Trainer.
Joachim Löw hat in diesem Achtelfinale seine Meisterprüfung abgelegt. Er hat die Schwächen der "Three Lions" gnadenlos aufgedeckt und seine junge Mannschaft mit klaren taktischen Vorgaben exakt darauf eingestellt. Das ist ihm schon einmal gelungen gegen einen Favoriten, im EM-Viertelfinale gegen Portugal - aber nun hat sich der Bundestrainer auch auf der Weltbühne des Fußballs bewiesen.

Triumph über England: Klose im Glück - Müller völlig losgelöst
Das Ergebnis seiner Vorgaben war eine Leistung, die Löw selbst als "grandios" bezeichnete, Thomas Müller als "ziemlich perfekt" und Bastian Schweinsteiger "sehr gut" nannte. Die Wahrheit bewegte sich wohl irgendwo dazwischen, nicht alles war ja brillant, Sami Khedira verlor einige Bälle und Zweikämpfe und Jérôme Boeteng das Kopfballduell vor dem 1:2. Aber am Ende war es eine Mannschaftsleistung, die die Leichtigkeit des Australien-Spiels mit der kämpferischen Energieleistung der Gruppenpartie gegen Ghana kombinierte.
Eine Leistung, die selbst der Gegner anerkennen musste. "Die Deutschen waren die bessere Mannschaft. Sie haben hochverdient gewonnen", sagte Englands Kapitän Steven Gerrard, der im Gegensatz zu seinem Trainer auch Lampards "Bloemfontein-Tor" realistisch einschätzte: "Ich stelle mich nicht hier hin, um zu sagen, wir hätten nur verloren, weil der Schiedsrichter das Tor nicht gegeben hat."
Das DFB-Team hat mit dem Sieg gegen die favorisierten Engländer mehr geschafft als nur ins Viertelfinale einzuziehen. Es hat ein Ausrufezeichen gesetzt in einem Moment, in dem Zweifel an der Abwehr aufgekommen waren und an der Fähigkeit, dem Druck eines Weltturniers standzuhalten. Das Team hat spielerisch dominiert in einem Spiel, das vorher mit dem Etikett "Kampf und Leidenschaft" versehen worden war. Es hat überrascht - nur nicht sich selbst. "Ich habe immer wieder betont, dass wir eine Klassemannschaft haben, die genauso gut angreifen wie verteidigen kann. Das hat mir heute sehr imponiert", sagte Miroslav Klose.

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Die andere Erkenntnis des Spiels ist: Die Mannschaft hat wieder eine Achse. Solche Achsen kennzeichnen seit jeher erfolgreiche Teams, beim Vizeweltmeister 2002 hieß sie Kahn-Metzelder-Ballack-Klose, beim Vizeeuropameister 2008 Lehmann-Mertesacker-Ballack-Podolski. Die Achse anno 2010 heißt Neuer-Friedrich-Schweinsteiger-Klose. Vor allem Friedrich wirkt so konstant gelassen und abgeklärt, dass man sich fragt, ob der Mann wirklich gerade mit Hertha BSC abgestiegen ist und noch keinen neuen Club hat. Gegen England nahm er Wayne Rooney aus dem Spiel - auch in der Schlussphase, als Friedrich schon mit einer Gelben Karte belastet war.
Wie weit kann dieses Selbstverständnis das DFB-Team noch tragen? Argentinien ist ein anderer Gegner als die müden Engländer, die eigentlich ein 4-4-2 spielen sollen, aus der Premier League ein 4-3-3 gewohnt sind und gegen Deutschland mitunter ein 4-2-4 riskierten. Argentinien kann taktische Disziplin mit Kunst und Leichtigkeit verbinden - Argentinien gleicht der deutschen Mannschaft in vielerlei Hinsicht.
2006 war das nicht anders, Deutsche und Südamerikaner trafen im Viertelfinale aufeinander, und auch damals war die Favoritenrolle an Argentinien vergeben. Das Spiel endete 1:1 nach Verlängerung, die Entscheidung für Deutschland fiel im Elfmeterschießen. Löws Team wäre jedenfalls gewappnet - der Bundestrainer hatte vor der Partie gegen England vorsichtshalber Strafstöße üben lassen.

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