Maradona in Argentinien »So etwas hat Leo Messi nicht und wird es nie haben«

Der Moment, in dem wahrscheinlich alle Argentinier Maradona liebten: Nach dem Sieg im WM-Finale 1986
Foto:David Cannon/ Getty Images

Gustavo Grabia, Fußball-Autor
Der Moment, in dem wahrscheinlich alle Argentinier Maradona liebten: Nach dem Sieg im WM-Finale 1986
Foto:David Cannon/ Getty Images
Als Diego Maradona Ende Oktober 60 Jahre alt wurde, da gab er ein einziges Interview und gestattete den Argentiniern dabei einen Einblick in sein Seelenleben. Er sei sich nicht sicher, ob sein Land und die Menschen ihn lieben und in schöner Erinnerung behalten würden, sagte er der argentinischen Tageszeitung »Clarín«. »Ich bin den Menschen auf ewig dankbar, jeden Tag überraschen sie mich mit ihrer Zuneigung, ich werde das nicht vergessen«, sagte er. »Aber manchmal frage ich mich, ob sie mich auch weiterhin mögen werden, ob sie immer das Gleiche empfinden werden.«
Es klingt fast, als ahnte Maradona da seinen Tod voraus, oder er war aufgrund des runden Geburtstags besonders nachdenklich. Aber er hat mit seinen Worten einen Punkt getroffen, was sich selbst und die argentinische Bevölkerung betrifft. Maradona und die Argentinier – das war eine Beziehung von Liebe und Dankbarkeit, von Zuneigung und Hingabe auf der einen Seite. Und von Ablehnung, Enttäuschung und Zurückweisung auf der anderen Seite, die den Spieler mit dem fußballverrücktesten Volk der Welt verbunden haben.
Die Argentinier haben ihn geliebt für das, was er dem Land fußballerisch gegeben hat, vor allem den Weltmeister-Titel 1986 in Mexiko in einem politisch schwierigen Moment. Unvergessen bleibt der Sieg gegen den Erzfeind England im Viertelfinale mit der »Hand Gottes«, gerade nach der Niederlage im Krieg um die Falklandinseln vier Jahre zuvor.
»Er hat es geschafft, dass wir nach den schweren Jahren der Diktatur und der Niederlage gegen England über den Fußball wieder Stolz, nationales Selbstbewusstsein, eine Identität entwickelt haben«, sagt Lucho Olivero. »Dank Diego sind wir zehn, zwölf Jahre mit stolzgeschwellter Brust durch die Welt gelaufen, weil er Argentinien und dem Planeten so viel Freude gegeben hat«, sagt der Reporter, der Maradona kannte und ihn interviewt hat, im Gespräch mit dem SPIEGEL.
Und dabei war er Meister der Schlitzohrigkeit, beherrschte Kunst- wie Schurkenstücke, streute in seine Genialität ab und an ein Schummeln ein, niemand konnte fünfe so gerade sein lassen wie er, sagt der Fußball-Autor Gustavo Grabia. »Das ist zutiefst argentinisch, das sind wir, so verstehen wir uns. Dafür haben wir ihn immer geliebt, so etwas hat Leo Messi nicht und wird es nie haben.«
Aber die Argentinier haben zunehmend damit gefremdelt, wie Maradona sein Leben außerhalb des Fußballs führte. Sein Drogenkonsum, die Nähe zur Camorra in seiner Zeit in Neapel, das Doping, die telenovela-ähnlichen Auseinandersetzungen mit seiner Familie, die nicht anerkannten Kinder, die Abstürze, die Auftritte bei der WM 2018 in Russland im wohl nicht nüchternen Zustand. Seine Hingabe zu Präsidenten wie dem Kubaner Fidel Castro, der ebenfalls an einem 25. November vor vier Jahren starb, dem Venezolaner Nicolás Maduro und Russlands Wladimir Putin. »Er war Hauptdarsteller einer Realityshow in Endlosschleife«, schreibt der Journalist Julio Chiappetta.
Gustavo Grabia, Fußball-Autor
Aber wenige Stunden nach dem Tod ging ein Satz durch das Land und die sozialen Netzwerke, hinter dem sich wohl das ganze argentinische Volk versammeln kann. »No te juzgo por lo que hiciste con tu vida, te amo por lo que hiciste con la nuestra«. Ich verurteile dich nicht für das, was du mit deinem Leben gemacht hast. Ich liebe dich für das, was du mit unserem gemacht hast. »Und Diego hat uns pures Glück gegeben«, sagt Olivero. Kein Argentinier sei ihm böse oder hasse ihn. Manche seien vielmehr enttäuscht darüber, was er aus seinem Leben neben dem Fußball gemacht habe. »Aber er hatte das, was Messi nie haben wird, diese absolute Führungsmentalität auf dem Platz, diesen Patriotismus, das blau-weiße Herz.«
Maradona hatte in seiner Heimat Namen, die all das ausdrücken. Aus Diego wurde in Wortspielen und Spitznamen »El Diez« (Die 10) oder »El Dios« (Gott). Er war der »Pibe de Oro«, der Goldjunge, die »Hand Gottes«, und ja, er war göttlich für die Argentinier und bekam sogar seine eigene Kirche. Die »Iglesia Maradoniana«, gegründet von den Hunderttausenden Maradona-Fans in der ganzen Welt. Sie hat ihre Gebote und ihre Gebete. »Diego, geheiligt sei dein linker Fuß« ist eine der zentralen Huldigungen.
Maradona liebte die Extreme, nicht das Mittelmaß, nur ganz oben oder ganz unten. Das war vielen Argentiniern sehr nahe. Bereits vor Jahren beschäftigte er sich mit der Endlichkeit seiner irdischen Existenz, knapp genug schrammte er dafür schließlich schon früher am Tod vorbei, 2000 hatte er einen Herzinfarkt erlitten. In einem Interview verriet er deshalb, was einmal auf seinem Grabstein stehen solle: »Gracias a la pelota«. Ich danke dem Ball.
Für den Reporter und Maradona-Kenner Lucho Olivero wird Diego kaum sterben können. »Man hat heute das Gefühl, dass sein Tod Fake News ist, die Argentinier wollen nicht glauben, dass Maradona wirklich tot ist«, sagt er.
»Er kann vielleicht physisch gehen. Aber in unseren Herzen wird er immer weiterleben.«
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Diego Armando Maradona Franco, einer der größten, wichtigsten, besten Fußballer der Geschichte, ist tot. Er starb am Mittwoch nach einem Herzinfarkt. Maradona wurde nur 60 Jahre alt.
Maradonas Tod dürfte wenige, die ihn erlebten, unberührt lassen. Denn seine Karriere und sein Leben waren nicht nur von sportlichen Ausnahmeleistungen und Titeln (wie dem WM-Sieg 1986, Foto) geprägt. Zu Maradona gehörten stets auch Tiefen: sportliche, vor allem aber solche, die sein Leben betrafen. Er war drogensüchtig, hatte mit Alkohol und gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Maradona war brillant – und fehlbar. Gerade deshalb ließ er kaum jemanden kalt.
Das Foto stammt aus dem Februar dieses Jahres. Maradona war zuletzt Trainer des argentinischen Erstligisten Gimnasia y Esgrima La Plata gewesen, beim Klub hatte er im September 2019 begonnen.
Marcos Brindicci / Getty Images
Als Trainer hat Maradona nie an die Leistungen anknüpfen können, die er als Spieler gezeigt hatte. Aber: Das war auch schwer möglich. Denn kaum einer zelebrierte Fußball besser und spektakulärer als Maradona, vielleicht sogar niemand. Den WM-Titel 1986 (Foto) gewann Maradona mit den Argentiniern beinahe im Alleingang.
Die argentinische Strategie bestand meist darin, Maradona den Ball zuzuspielen – und ihm dann den Rücken freizuhalten. Mit seinen Sololäufen war er für die Gegner kaum zu stoppen. Fünf Tore schoss er selbst, fünf weitere Treffer bereitete er vor. Am Ende stand der WM-Sieg (samt Finalerfolg über Deutschland) und die Auszeichnung als bester Spieler des Turniers.
Das Viertelfinale gegen England wird auf ewig mit dem Namen Maradona verknüpft sein. Argentinien gewann 2:1, beide Treffer erzielte Maradona – aber das Wie war entscheidend. Beim ersten Tor bugsierte er den Ball mit der Hand an Englands Keeper Peter Shilton vorbei. Die Schiedsrichter erkannten das Vergehen nicht – sie gaben den Treffer.
»Es war der Kopf Maradonas und die Hand Gottes«, sollte Maradona später sagen. Er war eben nicht nur am Ball ein Künstler, sondern auch mit Worten.
Auf jenes eigentlich irreguläre 1:0 ließ Maradona ein ikonisches Traumtor folgen. Er dribbelte über den halben Platz und umtänzelte englische Verteidiger, als wären sie Amateurkicker. Der Sololauf samt Abschluss gilt bis heute als eines der großartigsten Tore der WM-Geschichte.
Fußballer von heute machen sich wohl keine Vorstellung davon, wie viel Kicker der Generation Maradona einstecken mussten. Dribbler wie er wurden besonders oft und rüde gefoult. Maradona blieb in der Regel nie lange liegen. Er dribbelte einfach aufs Neue los.
Wer war der Bessere? Eine müßige Frage. Dass Maradona und Pelé zu den allergrößten des Fußballs, ach was, des Sports zählen, daran zweifeln wohl nur wenige.
Auf Klubebene spielte Maradona für die Argentinos Juniors und die Boca Juniors, ehe er 1982 nach Europa wechselte. Beim FC Barcelona (Foto) wurde er allerdings nicht richtig glücklich. Nachdem er im Anschluss an eine Pokalfinalpleite gegen Bilbao eine Schlägerei auf dem Rasen angezettelt hatte, wollte Barcelona den Starspieler verkaufen.
Maradona ging zur SSC Neapel nach Italien. Er wurde empfangen wie ein Rockstar.
In einer Dokumentation über ihn wird der Hype eingefangen, der in Neapel um ihn entstand. Der SPIEGEL schrieb in seiner Rezension: »Wenn man je von übermenschlichen Erwartungen sprechen kann, dann sind es die, die die Stadt, der Verein, die Menschen an diesen 23-jährigen jungen Mann haben. Und es geschieht das denkbar Schlimmste: Er wird ihren Erwartungen gerecht.«
Sportlich glänzte Maradona. Als Schlüsselspieler führte er Napoli 1987 zum Double, 1989 zum Sieg im Uefa-Cup, 1990 zur erneuten Meisterschaft.
Doch Maradona genoss auch das neapolitanische Nachtleben. Konsumierte Drogen. Er pflegte gute Beziehungen zur Camorra, dem organisierten Verbrechen. Hier posiert Maradona mit Mafiaboss Carmine Giuliano.
Es ist aus heutiger Sicht schwer verständlich, wie er einerseits einen solchen Lebensstil pflegen und zugleich sportliche Spitzenleistungen abliefern konnte.
1984 war Maradona nach Neapel gekommen, 1991 verließ er den Klub wieder. Die Wertschätzung der Neapolitaner für Diego Maradona aber bleibt wohl auf ewig. Man kann sie noch heute in vielen Ecken Neapels entdecken.
Auf die SSC folgte eine Station in Sevilla (Foto), dann wechselte Maradona zurück nach Argentinien, zu den Newell's Old Boys und Boca. So erfolgreich wie während seiner Zeit in Neapel war Maradona aber nie wieder.
Die WM 1990 in Italien. Diesmal prägte Maradona das Turnier nicht derart wie zuvor 1986 in Mexiko. Das Endspiel erreichte Argentinien trotzdem. Dort machte Maradona Bekanntschaft mit Guido Buchwald.
Buchwald nahm den Spielmacher in Manndeckung, und das ziemlich konsequent. Die Folge: Maradona kam kaum zur Entfaltung, und wenn er nicht glänzen konnte, blieb die gesamte argentinische Offensive harmlos.
Viel musste er einstecken, am Ende verlor Argentinien 0:1, Deutschland war Weltmeister.
Maradona, der Trainer: Schon während einer Dopingsperre als Spieler versuchte er sich kurzzeitig (und wenig erfolgreich) als Coach. 2008 übernahm er trotz mangelnder Erfahrung den Posten als argentinischer Nationaltrainer.
»Maradona ist 80 Prozent Mythos und 20 Prozent Taktik«, sagte der Sportjournalist Luciano Olivero kürzlich dem SPIEGEL über den Trainer Maradona. Olivero hatte ihn länger begleitet.
Wo er hinkam, Maradona stand im Mittelpunkt. Dieses Foto entstand Anfang 2010 in Pretoria, wo ein halbes Jahr später die WM mit ausgetragen wurde.
Maradona führte die Auswahl zwar zur Endrunde nach Südafrika und dort bis ins Viertelfinale. Gegen Deutschland schied Argentinien allerdings überraschend deutlich aus – 0:4 hieß es. Anschließend gingen Verband und Trainer getrennte Wege.
Gimnasia y Esgrima La Plata war seine siebte und letzte Trainerstation. Zuvor hatte er manch dubios wirkenden Job angenommen, unter anderem war er »Ehrenpräsident« von Dinamo Brest aus Belarus. Selten dauerte sein Engagement länger als ein Jahr.
Anfang 2000 erlitt der damals kokainabhängige Maradona einen Herzinfarkt. Während einer Entziehungskur auf Kuba schloss er Freundschaft mit Fidel Castro. Er ließ sich Tattoos mit den Konterfeis von Che Guevara ...
... und Castro stechen. Vier Jahre blieb er auf Kuba.
Bilder, die um die Welt gingen: Maradona bei der WM 2018 in Russland. Aus seiner Loge heraus unterstützte er die argentinische Mannschaft mit augenscheinlicher Inbrunst.
Anfang November musste sich Maradona einer Notoperation am Kopf unterziehen. Zuvor war bei ihm ein subdurales Hämatom festgestellt worden, eine Blutung im Gehirn. Mitte November wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. 13 Tage später starb Diego Maradona.
Maradonas Tod dürfte wenige, die ihn erlebten, unberührt lassen. Denn seine Karriere und sein Leben waren nicht nur von sportlichen Ausnahmeleistungen und Titeln (wie dem WM-Sieg 1986, Foto) geprägt. Zu Maradona gehörten stets auch Tiefen: sportliche, vor allem aber solche, die sein Leben betrafen. Er war drogensüchtig, hatte mit Alkohol und gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Maradona war brillant – und fehlbar. Gerade deshalb ließ er kaum jemanden kalt.
Foto: imago/Pressefoto BaumannAls Trainer hat Maradona nie an die Leistungen anknüpfen können, die er als Spieler gezeigt hatte. Aber: Das war auch schwer möglich. Denn kaum einer zelebrierte Fußball besser und spektakulärer als Maradona, vielleicht sogar niemand. Den WM-Titel 1986 (Foto) gewann Maradona mit den Argentiniern beinahe im Alleingang.
Foto: Laci Perenyi / imago imagesDie argentinische Strategie bestand meist darin, Maradona den Ball zuzuspielen – und ihm dann den Rücken freizuhalten. Mit seinen Sololäufen war er für die Gegner kaum zu stoppen. Fünf Tore schoss er selbst, fünf weitere Treffer bereitete er vor. Am Ende stand der WM-Sieg (samt Finalerfolg über Deutschland) und die Auszeichnung als bester Spieler des Turniers.
Foto: David Cannon/ Getty ImagesDas Viertelfinale gegen England wird auf ewig mit dem Namen Maradona verknüpft sein. Argentinien gewann 2:1, beide Treffer erzielte Maradona – aber das Wie war entscheidend. Beim ersten Tor bugsierte er den Ball mit der Hand an Englands Keeper Peter Shilton vorbei. Die Schiedsrichter erkannten das Vergehen nicht – sie gaben den Treffer.
Foto: Getty ImagesAuf Klubebene spielte Maradona für die Argentinos Juniors und die Boca Juniors, ehe er 1982 nach Europa wechselte. Beim FC Barcelona (Foto) wurde er allerdings nicht richtig glücklich. Nachdem er im Anschluss an eine Pokalfinalpleite gegen Bilbao eine Schlägerei auf dem Rasen angezettelt hatte, wollte Barcelona den Starspieler verkaufen.
Foto: Colorsport / imago imagesIn einer Dokumentation über ihn wird der Hype eingefangen, der in Neapel um ihn entstand. Der SPIEGEL schrieb in seiner Rezension: »Wenn man je von übermenschlichen Erwartungen sprechen kann, dann sind es die, die die Stadt, der Verein, die Menschen an diesen 23-jährigen jungen Mann haben. Und es geschieht das denkbar Schlimmste: Er wird ihren Erwartungen gerecht.«
Foto: Alessandro Sabattini / Getty ImagesMelden Sie sich an und diskutieren Sie mit
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