
Italien vs. Deutschland: Eine Hassliebe
DFB-Gegner im Halbfinale Bella Italia, brutta Italia
Die Italien-Sehnsucht der Deutschen endete am 17. Juni 1970. Beim Jahrhundertmatch, der Mutter aller Turnierspiele, ging die Fußball-Beziehung zwischen beiden Länder zu Bruch. Das legendäre Halbfinale in Mexiko mit der spektakulärsten Verlängerung der WM-Historie, das 4:3 der Italiener über Seeler, Müller, Overath und Co. war die Zäsur.
In dem Spiel wälzten sich die Azzurri fast über die gesamte reguläre Spielzeit am Boden, um das frühe 1:0 durch Spielverzögerung über die Zeit zu bringen. Ich war vier Jahre alt, Fußball war noch ein fernes Ding. Aber nach der Partie hörte ich bei uns auf der Straße erstmals das abwertende Wort "Itaker". Seitdem galten die italienischen Fußballer in Deutschland als Meister der Schauspielerei und Italien nicht mehr als das Land, wo die Zitronen blühen.
Ein Jahr später spielte Inter Mailands Roberto Boninsegna im Europacup-Duell auf dem Bökelberg bei Borussia Mönchengladbach den sterbenden Schwan, weil er von einer Colabüchse getroffen worden war. Wie tot sank er nieder und ließ sich vom Platz tragen. Im Rückspiel war Boninsegna immerhin schon wieder so fit, dass er dem Gladbacher Ludwig Müller das Schien- und Wadenbein brechen konnte.
Gleichzeitig wurde Francis Ford Coppolas bildgewaltiges Werk "Der Pate" in den deutschen Kinos zum Kassenschlager. Aus der Melange von beidem entstand das Bild, das bis heute die gängigen Vorurteile über Italien und den italienischen Fußball beherrscht. Irgendwie korrupt, mit allen Wassern gewaschen. Boninsegna und Marlon Brando als Don Vito Corleone sind die "role models" gewesen.
Das Klischee von den Tricksern ist nicht auszurotten
Es ist ein gebrochenes Verhältnis zweier großer Fußballnationen, die am Donnerstag (20.45 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) im Halbfinale der EM in Warschau wieder aufeinandertreffen. Ein Verhältnis voller Ambivalenz. Auf der einen Seite tragen deutsche Fußballfans Italien-Klischees von Generation zu Generation weiter: die Trickser, die Simulanten, die auf dem Platz jäh umfallen, wenn ein Gegenspieler sich ihnen nur auf Rufweite nähert. Noch am Sonntag beim Viertelfinale der Azzurri gegen England (4:2 nach Elfmeterschießen) durfte ich es wieder in meiner Twitter-Timeline lesen: Heulsusen. Es ist nicht auszurotten.
Auf der anderen Seite war Italien viele Jahre das Fußballparadies für deutsche Profis. Helmut Haller folgte den Lockrufen aus Italien schon in den Sechzigern, so wie Karl-Heinz Schnellinger, jener Schnellinger, der bei der WM 1970 in der 90. Minute mit seinem Panthersprung zum 1:1 die Verlängerung erzwang. Ernst Huberty seufzte sich mit seinem "Ausgerechnet Schnellinger" ins kollektive Gedächtnis jedes Fußball-Enthusiasten.
In den Achtzigern und Neunzigern musste in Italien spielen, wer etwas auf sich hielt: Lothar Matthäus, Andreas Brehme, Jürgen Klinsmann, Karl-Heinz Riedle, Rudi Völler, Thomas Hässler. Ja, gar die Walz von der Pfalz, Hans-Peter Briegel, verdingte sich in der Opernstadt Verona. Die Serie A war der Krösus in Europa, es war egal, wie der Reichtum zustande kam, dass sich viele Clubs bis über beide Ohren verschuldeten.
Mit dem Antognoni-Trikot auf dem Schulhof
Es war schließlich die Liga, in der Diego Maradona spielte, es war die Liga aus dem Land des Weltmeisters von 1982 - der ekstatische Jubel des Marco Tardelli nach dem 2:0 gegen Toni Schumacher, der jauchzende greise Staatspräsident Sandro Pertini auf der Tribüne. Ich war sechzehn. Das ist ein Alter, in dem man sich leicht beeindrucken lässt. Und das italienische Team, allen voran der Lockenkopf Paolo Rossi, hatte mich tief beeindruckt. In der Schule trug ich das Trikot des filigranen Spielmachers Giancarlo Antognoni. Ich habe mir auf dem Schulhof damit nicht viele Freunde gemacht.
Die Bewunderung ließ später nach. Der italienische Fußball zeigte mehr und mehr seine dunkle Seite, die Toten aus dem Heysel-Stadion, die Schuldenexzesse, die Manipulationsversuche, die Hooligans. Andere Ligen wurden für die Profis attraktiver, in den Neunzigern war fast nur noch Oliver Bierhoff als deutscher Italien-Legionär übrig geblieben. Die Kräfteverhältnisse in Europa verschoben sich, Richtung England, Richtung Spanien. Die Serie A wurde zum Schmuddelkind. Aus Bella Italia wurde Brutta Italia, das hässliche Italien.
Das Land war immerhin noch der Gastgeber jener WM von 1990, bei der sich das DFB-Team zum Weltmeister krönte. Die Italiener haben sich im Gegenzug 16 Jahre später in Deutschland den Titel abgeholt. Das Halbfinale in Dortmund, jenes schmerzliche 0:2, jener fußballerische Todesstoß durch Fabio Grosso nach dem genialen Pass von Andrea Pirlo, es war die Rückkehr Italiens auf die ganz große Fußballbühne. Aber auch irgendwie bezeichnend, dass der WM-Gewinn mit dem Rüpel Marco Materazzi und seiner Provokation des Zinedine Zidane im Finale verbunden bleiben wird.
Am Donnerstag hat Italien wieder die große Chance auf ein Endspiel. Wieder haben sie mit den Angreifern Antonio Cassano und Mario Balotelli zwei schräge Typen in der Mannschaft - wie geschaffen als Reizfiguren für die deutschen Fans. Aber Andrea Pirlo ist auch nach wie vor da. Und der beeindruckt mich immer noch.