Zweimal hat Frankreich schon bei Heimturnieren triumphiert - jeweils mit einem genialen Spielmacher. Der nächste in dieser Reihe könnte Paul Pogba sein, an Selbstvertrauen mangelt es dem Shootingstar nicht.
Seht her, schien Patrice Evra zu sagen, als er beim Torjubel auf seinen Mitspieler Olivier Giroud zeigte: Seht her, hier kommen wir! Giroud hatte gerade im letzten Spiel Frankreichs vor der Heim-EM das Führungstor gegen Schottland geschossen, lässig mit der Hacke. Und Evra sollte Recht behalten. Die Franzosen siegten souverän 3:0 und glänzten in EM-Form. Wenige Tage später führte die Sport-Tageszeitung "L'Équipe" den Fingerzeig fort: Sie hob die "Équipe Tricolore" auf die Titelseite und schrieb "Favoris" darüber, "Favoriten". Sehr her, hier kommt der Titelfavorit! Das Thema Erwartungshaltung wäre damit auch geklärt.
In Frankreich gibt es eine Geschichte erfolgreicher Heimturniere. 1984 holte das Team bei der Europameisterschaft im eigenen Land den ersten Titel überhaupt. Michel Platini stürmte mit neun Toren in nur fünf Spielen ins kollektive Gedächtnis - seitdem wird er in Frankreich nur "Le Roi", der König, genannt. 1998 gewann Frankreich dann zu Hause sogar die Weltmeisterschaft - wieder angeführt von einem genialischen Spielmacher: Zinédine Zidane, allen Fußballfans als "Zizou" bekannt. Nach dem zweiten EM-Triumph im Jahr 2000 kamen keine weiteren Erfolge hinzu, 2010 sanken die Franzosen während der WM in Südafrika auf den Tiefpunkt, als sie das Training boykottierten und schließlich in der Vorrunde ausschieden.
2012 übernahm Didier Deschamps das Team. Deschamps war Kapitän der goldenen Generation, die Ende der Neunzigerjahre den Fußball dominierte. Mit dem ehemaligen Mittelfeldspieler ging es wieder aufwärts. Bei der WM 2014 unterlagen die Franzosen im Viertelfinale Deutschland nur knapp 0:1. Deschamps scheint es zudem zu gelingen, die Mannschaft zu befrieden - wenn auch zu einem hohen Preis: Für die EM hat er auf mehrere Stars verzichtet.
Franck Ribéry etwa hat es erwischt. Der Star vom FC Bayern war während des Trainingsboykotts 2010 einer der Rädelsführer und ist in seiner Heimat als Bad Boy in Verruf. "Ich habe keine Sekunde daran gedacht, ihn zurückzuholen", kommentierte Deschamps die Nichtberufung. Etwas schmerzlicher aber wird für den Coach die Entscheidung gewesen sein, Karim Benzema nicht zu nominieren. Benzema gilt als einer der besten Stürmer der Welt. Doch der Angreifer ist in eine Sex-Tape-Affäre um seinen Nationalmannschaftskollegen Mathieu Valbuena verwickelt. Nachdem sich selbst der französische Ministerpräsident Manuel Valls in die Sache eingemischt und erklärt hatte, dass für Benzema "kein Platz im Nationalteam" sei, strich Deschamps sowohl Benzema als auch Valbuena aus dem Kader.
Pogba will "eine Legende werden"
Zu den Stärken der französischen Mannschaft zählt die Offensive - auch ohne Benzema und Ribéry. Mit Stürmern wie Anthony Martial, Olivier Giroud, dem Bayern-Legionär Kingsley Coman und besonders Antoine Griezmann laufen für Frankreich junge und international erfahrene Profis auf, die ein Spiel alleine entscheiden können. Angetrieben wird die Offensive aber von einem, der das Zeug zum EM-Star hat: Paul Pogba.
Pogba wurde bei der WM 2014 zum Nachwuchsspieler des Turniers gewählt, heute ist er 23 Jahre alt. Der Mittelfeldakteur wirkt mit seinen 1,91 Metern schlaksig, tatsächlich besitzt er aber das Ballgefühl eines Zauberers. In Italien, wo er für Juventus Turin spielt, nennt man ihn wegen seiner Fähigkeit, an jeden noch so aussichtslosen Ball zu kommen, "Il Polpo Paul", "die Krake Paul". Pogba weiß, dass Frankreich nicht weniger von ihm erwartet, als die Nachfolge von Stars wie Platini und Zidane anzutreten. Glücklicherweise mangelt es dem Mann aber nicht an Selbstvertrauen: In einem Interview mit dem Magazin "11 Freunde" bekundete er jüngst, er wolle "eine Legende werden".
Zum Verhängnis könnte den Franzosen ihre Defensive werden. In den 20 Testspielen, die der EM-Gastgeber seit der WM 2014 bestritt, kassierte er 21 Gegentore. Vor der EM gesellte sich auch noch Verletzungspech hinzu. Deschamps muss den Ausfall von fünf defensiven Spielern verkraften. "La France sans défense", "Frankreich ohne Verteidigung", titelten französische Zeitungen.
Die Gegner der Gruppe A, Rumänien, Albanien und die Schweiz, sollten es den Franzosen aber nicht allzu schwer machen. Für Frankreich ist das Halbfinale drin - wenn nicht sogar noch mehr.
EM-Countdown: SPIEGEL ONLINE stellt alle 24 Teams vor
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Von Albanien bis Deutschland: 24 Teams treten bei der EM in Frankreich an. SPIEGEL ONLINE stellt alle Mannschaften vor. Die Texte in der Übersicht:Gruppe A
11 BilderFrankreich bei der EM: Von Platini bis Pogba
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Rund eine Woche vor dem EM-Eröffnungsspiel gegen Rumänien bestritt Frankreich sein letztes Testspiel gegen Schottland. Die Generalprobe glückte. Frankreich siegte 3:0.
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Mittelstürmer Olivier Giroud erzielte das 1:0 sehenswert mit der Hacke.
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Coach Didier Deschamps trainiert die "Équipe Tricolore" seit 2012. Unter ihm hat die Mannschaft langsam, aber beständig zu alter Stärke zurückgefunden.
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Franck Ribéry wurde von Didier Deschamps nicht für die EM berücksichtigt. Der Bayern-Star genießt in der französischen Öffentlichkeit nicht den besten Ruf.
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Auch Karim Benzema hat Deschamps eine Absage erteilt. Der Sturm-Star von Real Madrid soll der Komplize von Kriminellen sein, die seinen Mannschaftskameraden Matthieu Valbuena mit einem Sexvideo erpressen wollten.
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Zumindest kann man Deschamps nicht vorwerfen, parteiisch zu sein. Denn auch Valbuena strich der Chefcoach aus dem Kader.
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Der einzige Bundesligaspieler im EM-Aufgebot der Franzosen ist der Flügelstürmer Kingsley Coman.
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Der Stürmer Antoine Griezmann steht bei Atlético Madrid unter Vertrag. Im Champions-League-Halbfinale besiegelte er mit einem Treffer im Rückspiel das Ausscheiden des FC Bayern.
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1984 holte Frankreich den ersten Titel überhaupt. Angeführt wurde die Mannschaft von Michel Platinti, der in der Form seines Lebens war. Er schoss neun Tore in fünf Spielen.
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1998 gewann Frankreich schließlich die Weltmeisterschaft - wieder zu Hause. Der überragende Mann auf dem Platz: Zinédine Zidane.
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Für die EM 2016 ruhen die Hoffnungen der Franzosen auf Paul Pogba. Der Mittelfeld-Star von Juventus Turin soll der nächste Platini werden. Oder der nächste Zidane. Oder die Mannschaft zumindest zum Titel führen.