
Wales-Trainer Coleman: Der den Druck liebt
Wales-Trainer Coleman Druck? Fantastisch!
Bisher ist Chris Coleman als Trainer mit ausnehmend guter Laune aufgefallen. Der 46-Jährige redet bei dieser Europameisterschaft gerne, beantwortet jede Frage ausführlich und zuvorkommend und strahlt eine ansteckende Gelassenheit aus. Doch während der Pressekonferenz vor dem Viertelfinale gegen Belgien (21 Uhr, High-Liveticker SPIEGEL ONLINE; TV: ZDF) erscheint plötzlich ein Ausdruck deutlicher Verärgerung auf dem sonst so freundlichen Gesicht des Walisers.
Er könne das "Bla, bla, bla" all der Leute nicht mehr hören, die sagen: "Wales hat hier nichts mehr zu verlieren", sagt er mit einer ungewohnten Schärfe in der Stimme. Die Rolle des lustigen Außenseiters auf Abenteuertour nerve, "das ist nicht die Haltung, mit der wir in das Spiel gehen wollen". Dieses Viertelfinale, das sei kein Extrabonus zu einer bereits vollbrachten Sensation, "das hier ist eine Riesenherausforderung, ich will den Druck", sagt Coleman.
Denn der Druck sei "fantastisch".
Um die Größe der Partie gegen Belgien zu illustrieren, kramt er eine Anekdote aus dem Vorbereitungscamp hervor. Während der Übungswochen in Portugal waren einige ältere Landsleute zu Besuch, Männer, die 1958 Nationalspieler waren. Damals spielte Wales bei der WM in Schweden, es war die einzige Turnierteilnahme der Nation bis zu dieser EM. Als die Mannschaft damals nach dem knappen Viertelfinal-Aus gegen den späteren Sieger Brasilien - Pelé hatte den 1:0-Siegtreffer erzielt - wieder in die Heimat zurückkehrte, hätten Nachbarn und Bekannte gefragt: "Wo wart ihr denn? Wie war euer Urlaub?" Kaum jemand habe damals über die WM und den Erfolg der Mannschaft Bescheid gewusst, erzählt Coleman.
"Dunkle Tage"
Er trägt diese Anekdote vor, um die historische Dimension der Partie gegen Belgien sichtbar zu machen. Denn am Abend blicken nicht nur alle Landsleute auf die Mannschaft um Gareth Bale und Aaron Ramsey, sondern der gesamte Kontinent. Weil die WM 1958 jenseits des öffentlichen Interesses stattfand, erlebt Wales derzeit zweifellos den größten Augenblick seiner Fußballhistorie.
Und Coleman liebt diese süßen Tage, in denen er durch Frankreich schwebt. "Das hier ist ein Moment zum Genießen", sagt der Trainer, der einer der größten Gewinner dieses Turniers ist. Der aber auch noch einmal an die "dunklen Tage" erinnert, "die noch gar nicht lange zurückliegen". Bis zum 27. November 2011 hieß der Trainer der Waliser nämlich Gary Speed, ein Jugendfreund von Coleman. Beide kannten sich seit ihrem zehnten Lebensjahr, doch 2011 tötete Speed sich völlig überraschend selbst. Dies sei der "schlimmste, schlimmste, schlimmste Tag" in seinem Leben gewesen, erzählt Coleman, der die Nachfolge antrat und zunächst zum einzigen Trainer der walisischen Geschichte wurde, der seine ersten fünf Partien im Amt verlor.
Nach einem besonders schlimmen 1:6 gegen Serbien und der verpassten Qualifikation für die WM in Brasilien wollte er schon aufgeben. Er sei sicher gewesen, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und habe gefürchtet, die Mannschaft sei nicht in der Lage, das Trauma vom Tod des Trainers zu verarbeiten, erzählt der 46-Jährige.
"Gary ist immer in meinen Gedanken, nicht nur bei dieser EM", sagt Coleman über Speed, "er war ein besonderer Mensch, jemand, an den ich sehr oft denke und der mir immer fehlen wird."
Glück im Unglück
Dieser Verlust des Freundes war nicht das einzige Unglück, das eine zentrale Rolle in Colemans Karriere spielt. 2001, nach zehn Jahren Profifußball für Teams wie Swansea, Fulham, Blackburn, Crystal Palace und 32 Länderspielen für Wales, brach er sich bei einem Autounfall ein Bein. Der Versuch eines Comebacks scheiterte, aber er hatte das Glück, dass Jean Tigana, sein damaliger Trainer bei Fulham, ihn in den Trainerstab beförderte.
Dort wurde er 2003 der jüngste Chefcoach der Premier League, schaffte den Klassenerhalt und beendete die folgende Saison auf Rang neun, ein historischer Erfolg für Fulham. Aber natürlich nicht vergleichbar mit der Geschichte dieser EM, die jetzt noch weitergehen soll. Denn Belgien liegt den Walisern.
Schon in der Qualifikation spielten die beiden Teams gegeneinander. Zu Hause in Cardiff siegte die kleinste der vier britischen Nationen 1:0, in Belgien erkämpfte das Team ein 0:0, einen Gegentreffer haben sie nicht zugelassen. Und die Strategie für dieses Viertelfinale ist auch klar: "Wenn man zu offen gegen Belgien spielt, dann zerschneiden sie einen wie ein Messer ein Stück Butter".
Coleman und seine Spieler sind nicht zum Spaß hier. Sie wollen mehr.