Peter Ahrens

Frankreichs Nationalmannschaft Ein Blau, das ich nie vergessen werde

Käse-Igel und Kratzpullover: Zu jedem Deutschlandspiel dieser EM erinnert sich unser Redakteur an eine besondere Partie gegen den jeweiligen Gegner. Diesmal geht es zurück in die Zeit, als die Fernsehwelt plötzlich bunt wurde.
Horst-Dieter Höttges, der Eisenfuß. Mehr Schwarzweiß geht nicht. Die Franzosen dagegen leuchten.

Horst-Dieter Höttges, der Eisenfuß. Mehr Schwarzweiß geht nicht. Die Franzosen dagegen leuchten.

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WEREK / imago images

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Dieses Blau, ich werde es nie vergessen. Ich weiß, das Blau des Himmels ist überwältigend, das Blau des Meeres sowieso, und manche schwärmen von dem Blau der Augen von Hans Albers. Aber für mich ist Blau die Farbe der französischen Fußballtrikots, es war die erste Farbe, die ich im Fernsehen sah. Und manchmal denke ich, es war überhaupt die erste Farbe, die ich im Leben so richtig wahrnahm.

Es hat mich überwältigt am 13. Oktober 1973, ich habe das Datum noch mal nachgeschaut. Deutschland spielt gegen Frankreich im Gelsenkirchener Parkstadion, ich bin sieben Jahre alt, und dieser Tag ist ein besonderer Tag. Mein Vater packt mich in den Opel Kadett, ein Arbeitskollege hat eingeladen.

Es gibt etwas zu feiern. Der Kollege hat jetzt im Wohnzimmer einen Farbfernseher stehen, und ein Fußballspiel scheint ihm der richtige Anlass, die Errungenschaft den Freunden, Nachbarn und Kollegen vorzuführen. Alle anderen sehen die Welt noch in Schwarzweiß.

Ein Farbfernseher, eine Attraktion.

Zuvor gab es das zwar mal, dass in einer Wissenschaftssendung in der ARD mal eine optische Täuschung vorgeführt wurde, dass man das Gefühl hatte, man sieht auf seinem Schwarz-Weiß-Gerät bunte Spiralen, aber mehr Farbe haben die frühen Siebzigerjahre in Paderborn nicht zu bieten.

Die Welt ist grau, die Häuser sind grau, die Pullover kratzen, wir Kinder fürchten uns vor dem Pastor, der im Religionsunterricht auch gern mal Ohrfeigen verteilt.

Die bunte Welt, wie sie ein Jahr zuvor bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in München zelebriert wurde, sie ist an Ostwestfalen vorbeigegangen. Auch wenn mein Onkel Kurt sich plötzlich bei Familienfeiern mit einer gelben Krawatte über einem orangefarbenen Hemd blicken ließ. Das war eine Aufregung.

Ein schmaler Strich auf dem Bildschirm

Bevor der Fernseher angemacht wurde, wurde Partygebäck gereicht, Salzstangen, Fischlis, Käse-Igel. Und dann schritt der Arbeitskollege fast weihevoll ans Gerät, als werfe er eine Champagnerflasche zur Taufe an den Schiffsrumpf.

Er drückte den Einschaltknopf, erst passierte nichts, dann erschien ein schmaler Strich auf dem dunklen Bildschirm, und plötzlich war das Bild da. Ich glaube sogar, wir haben geklatscht, wie es die Passagiere manchmal tun, wenn ein Pilot sein Flugzeug heil auf die Landebahn gesetzt hat.

So sahen die anderen das Spiel: Gerd Müller trifft in Schwarzweiß

So sahen die anderen das Spiel: Gerd Müller trifft in Schwarzweiß

Foto: Ferdi Hartung / imago images

Der grüne Rasen vom Parkstadion, er ist viel grüner als der Rasen in unserem Garten. Das hätte man auch nicht gedacht, dass ausgerechnet Gelsenkirchen mir die Farbe ins Leben brachte.

Bei den Deutschen, bei Beckenbauer, Hoeneß, den Kremers-Zwillingen und Gerd Müller war es egal, die trugen genauso Schwarzweiß wie vorher. Aber dieses wunderbare Blau der Franzosen, es leuchtete.

Der erste Spieler, dessen Name ich mir gemerkt habe und ihn bis heute mit diesem Spiel verbinde, war Marius Trésor, was für ein toller Name. Innenverteidiger, und man musste schon wirklich etwas von einem Panzerknacker haben, um an ihm vorbeizukommen. Später schoss dieser Trésor ein artistisches Tor in jenem berühmten WM-Halbfinale von Sevilla 1982, in dem Torwart Toni Schumacher so viel für das Deutschlandbild Frankreichs getan hatte.

Das Ergebnis des Spiels war fast egal, die Deutschen gewannen 2:1, zwei Müller-Tore natürlich, was sonst, die Erwachsenen tranken ihr Nachmittagsschnäpschen, am Abend gab es noch Windbeutel mit Sahne, dann ging es wieder nach Hause.

Zurückgeworfen in die schwarz-weiße Welt, in der Kommissar Keller ermittelte, Ernst Stankovski fragte, wer die Melodie erkenne, und die Fernsehsportreporter jede ihrer Übertragungen einleiteten mit dem Satz: »Für unsere Schwarz-Weiß-Zuseher: Die Bayern spielen in den dunklen Trikots von links nach rechts.«

Ich war wieder ein Schwarz-Weiß-Zuseher. Wie die anderen.

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Abends Sport bei Oma

Zwei Jahre später war es dann so weit, und auch bei uns zog die Farbe ins Haus ein. Meine Oma, die bei uns eine Etage bewohnte, hatte den Sparstrumpf gewendet und sagenhafte 2000 D-Mark investiert, und danach ging es für die ganze Familie allabendlich im Gänsemarsch zur Oma, um dort Fernsehen zu gucken. »Am laufenden Band« »Musik ist Trumpf«, »Der große Preis« – und natürlich Sport. Die Fußball-EM 1976, die Hemden der Tschechoslowakei, sie waren dann auch bei uns schon rot.

Und so sieht Gerd Müller 1973 in Farbe aus

Und so sieht Gerd Müller 1973 in Farbe aus

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Meine Oma hatte ein sehr spezielles Verhältnis zum Fußball. Noch in den späten Achtzigerjahren fragte sie, über den Rand ihrer Brille lugend, die klappernden Stricknadeln in der Hand, bei jedem Spiel anfangs: »Wo ist denn überhaupt der Maier?«, obwohl der Torwartstar der Bayern seine Karriere da schon mehr als zehn Jahre beendet hatte.

Wenn die Kamera die Gesichter der Gegner der deutschen Elf bei der Hymne abschritt, stellte sie zuverlässig fest: »Was für Kerle. Gegen die haben unsere sowieso keine Chance.«

Und wenn das Publikum einen Angriff der DFB-Elf mit anschwellendem Rufen unterstützte, wurde sie ärgerlich: »Die sollen doch still sein, im Stadion. Jetzt sind die anderen doch vorgewarnt, dass es gefährlich für sie wird.« Bei jedem, aber wirklich jedem Eckstoß: »Ach, eine Ecke. Ich habe noch nie gesehen, dass das was bringt.« Dieses Erbe zumindest hat die DFB-Elf bis heute bewahrt.

Irgendwann konnten meine Eltern es nicht mehr ertragen. Dann gab es auch bei uns Buntfernsehen.

Als ich mir jetzt noch einmal Bilder von diesem damaligen Spiel Deutschland gegen Frankreich von 1973 angeschaut habe, war ich enttäuscht. Das Blau leuchtet gar nicht mehr so, wie ich es in Erinnerung habe. Es ist eben einfach nur blau.

So vieles im Leben verblasst. Auch Farbe.

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