EM-Niederlage gegen Spanien Abschied vom Sommertraum
Jens Lehmann steht auf der Torlinie, ganz gerade, so als würde er einen Elfmeter erwarten. Aber es kommt kein Schuss, kein Stürmer läuft auf ihn zu. Lehmann steht nur reglos da und schaut in die Ferne, wo ein paar Feuerwerkskörper knallen und Fußballer in roten Trikots tanzen.
Dann kommt Joachim Löw. Langsam geht er auf Lehmann zu, der jetzt am Pfosten lehnt, den Blick immer noch starr. Löw gibt Lehmann die Hand, umarmt ihn, und dann stehen sie kurz nebeneinander, schauen auf die jubelnden Spanier und die deutschen Spieler, die auf dem Boden liegen oder sitzen. Bastian Schweinsteiger. Miroslav Klose. Per Mertesacker.
Lehmann und Löw nehmen in diesem Moment Abschied von einem Traum. Und vielleicht auch ein bisschen von sich.
"Ich habe ihm zu seiner Leistung gratuliert", sagt Löw später, "und Danke gesagt für alles, was er getan hat." Es sind Worte eines nahenden Abschieds, auch wenn Lehmann später sagt, dass er jetzt nichts sagen werde zum möglichen Ende seiner DFB-Karriere. Stattdessen berichtet der Torwart von seiner Enttäuschung und von Gedanken darüber, ob man vielleicht etwas besser hätte machen können. "Aber der Konjunktiv ist der Feind des Verlierers. Hätte, hätte, hätte", sagt Lehmann dann.
Es ist faszinierend, wie realistisch und analytisch der 38-Jährige nach diesem Spiel blieb, nach diesen 90 Minuten, die eigentlich seine Karriere krönen sollten. Aber vielleicht wusste Lehmann, dass diese 0:1 (0:1)-Niederlage einfach zu deutlich war, zu klar und entwaffnend, dass jede Flucht in einen Konjunktiv unpassend gewirkt hätte.
Und lächerlich.
Spanien ist ein verdienter Europameister. Spanien verlor kein Spiel bei dieser EM. Es stellte den Torschützenkönig (David Villa, vier Treffer), kassierte in sechs Spielen nur drei Gegentore (ab dem Viertelfinale kein einziges mehr) und schoss selbst zwölf. Spanien gewann beide Partien gegen brillante Russen, ein Elfmeterschießen gegen Italien, diese Katze mit den sieben Leben. Und Spanien besiegte Deutschland, die Turniermannschaft mit der respekteinflößenden Vergangenheit. Man kann nicht viel mehr leisten bei einer Europameisterschaft.
Man kann auch nicht viel besser spielen.
Deshalb hütete sich auch der Bundestrainer nach dem Spiel, Ausflüchte zu suchen. Löw verzichtete auf eine Analyse der Schwächen seines Teams, er lobte die Stärken dieses übermächtigen Gegners. "Ich glaube, wir müssen heute die hohe Qualität der Spanier anerkennen", sagte Löw. Er wies auf die Vielzahl der Chancen hin, die der Gegner neben dem Tor von Fernando Torres (33.) noch hatte. Den Kopfball von Sergio Ramos. Die zwei Schüsse von Andrés Iniesta. Den Ball, an dem Marcos Senna knapp vorbeirutschte. Und, und, und.
Selten war ein 1:0 deutlicher als dieses. Es war ein 1:0-Schützenfest für die spanische Mannschaft. Und ein 0:1-Debakel für die deutsche.
Die ersten 15 Minuten bestimmte sie dieses Finale. 15 Minuten, in denen Miroslav Klose einen Pass von Sergio Ramos erahnte, sich den Ball aber zu weit vorlegte. In denen Michael Ballack an jenem Rechtsverteidiger Ramos vorbeizog und auch Klose, dessen Pass in den Strafraum Thomas Hitzlsperger nicht verwerten konnte. 15 Minuten, in denen die Spanier nur daneben zu stehen schienen und staunten.
Es blieb bei diesen 15 Minuten Ruhm.
Dann schoss Christoph Metzelder fast ein Eigentor nach einem Ballverlust Hitzlspergers, Per Mertesacker spielte einen Fehlpass, Metzelder ließ sich von Torres tunneln, Torres stieg höher als Mertesacker und köpfte an den Pfosten. Innerhalb weniger Minuten fiel die deutsche Mannschaft auseinander. Und erholte sich, mit Ausnahme einer Phase zwischen der 60. und 65. Minute, nicht mehr. In der letzten Viertelstunde, der Zeit also, in der man druckvolles Aufbäumen erwartet hätte, hatte dieses Team sogar Schwierigkeiten, die eigene Mittellinie zu überqueren.
Warum?
Die Mannschaft wirkte nicht fit. Zu langsam in den Zweikämpfen. Zu langsam im Spiel ohne Ball. Warum, das ist eine der Fragen dieses Spiels, ist ein Team nicht fit, das von einem exklusiven Kreis von Fitnesstrainern betreut wird?
Die Mannschaft wirkte auch im Kopf nicht frei. Sie ließ sich von sich selbst aus dem Konzept bringen, von Fehlpässen in der Anfangsphase, von verlorenen Zweikämpfen, von den Ballstafetten des Gegners. Wie konnte das einer Mannschaft passieren, deren Kern seit vier Jahren zusammenspielt, das WM-Halbfinale erreichte, die EM-Qualifikation dominierte, Portugal aus dem Turnier warf und die Türkei in letzter Minute?
Die Mannschaft spielte auch nicht, sie arbeitete wieder. Die Leichtigkeit ist weg. Sie war kurz da, gegen Portugal, als der Trainer gesperrt in einer VIP-Loge saß, als alle von einem Kampfspiel sprachen und plötzlich gezaubert wurde. Es war das einzige Spiel in diesem Turnier, in dem die Mannschaft das Gesicht zeigte, das der Bundestrainer sich von ihr erhofft. Der Rest war meist Kampf. Aber gegen Spanien schien selbst dafür am Ende die Kraft zu fehlen.
Trotzdem stand diese deutsche Mannschaft verdient im Finale. Sie hat ein großartiges Turnier gekämpft, zu Recht sprach Löw danach ein "Riesenkompliment" aus. Sie hat das Halbfinale einer WM erreicht und das Endspiel der EM danach. Sie gehört zur europäischen Spitze, "auch spielerisch", wie Löw stolz erklärte. Diesmal sei der Druck für einige Spieler vielleicht einfach zu groß gewesen.
Manchmal brauchen große Teams länger als vier Jahre, um zu wachsen. Konstant zu brillieren. Jedem Druck standzuhalten.
Deutschland war ein würdiger Finalist. Aber mehr noch nicht.