Bilanz der EM-Gruppenphase: Die Highlights der Vorrunde in Bildern
Bilanz der EM-Gruppenphase
Stumpf ist Trumpf
Spektakuläre Spiele, tolle Tore und Stars in Top-Form - die EM-Vorrunde hatte kaum etwas davon. Stattdessen gab es enttäuschende Gastgeber und wenig taktische Finessen. Die Turnier-Zwischenbilanz von SPIEGEL ONLINE.
Die Vorrunde der Fußball-EM war hart. Zumindest für jene, die sehr guten, modernen Fußball erwartet hatten. Okay, die 70 Minuten, in denen Deutschland den Erzrivalen Niederlande dominierte, zauberte den Fans ein Grinsen ins Gesicht. Also, den deutschen. Aber sonst?
Für Hochgeschwindigkeitskombinationen war den meisten Teams
a) der Rasen zu stumpf,
b) der Rasen zu rutschig,
c) der Rasen zu lang.
Die Beschwerden der Niederlande, England oder Spanien über das Grün in den EM-Stadien machten die Fans stutzig. Meinen die das ernst? Meinten sie, quasi als Entschuldigung vorab. Und wenn schon nicht a), b) oder c) als Erklärung für sehr durchschnittlichen Fußball akzeptiert wurde, dann doch bitte schön d) die viel zu hohen Temperaturen.
Bei derart widrigen Bedingungen versprühte in Polen und der Ukraine auch niemand taktischen Glanz. Das 4-2-3-1-System wartet noch auf seine nächste Evolutionsstufe. Diese EM wirkt bisher, als hätte sie so schon einmal stattgefunden, 2004 zum Beispiel. Es kann schließlich kein Zufall sein, dass die Griechen immer noch dabei sind.
SPIEGEL ONLINE zieht Bilanz zur Vorrunde.
Das Spiel der Vorrunde
Für etwas Klasse über 90 Minuten sorgten lediglich zwei große Fußballnationen. Italien und Spanien (1:1) lieferten sich am ersten Spieltag der Gruppe C ein Duell auf Augenhöhe. Die Azzurri entnervten die iberischen Ballkünstler mit einer beinahe prähistorisch anmutenden Dreier-Abwehrkette, konterten geschickt und holten verdient ein Remis. Das war beeindruckend. Aber sonst?
Es ist an der Zeit für ein wenig Abbitte: Ja, Mario Gomez ist ein starker Stürmer. So stark, dass er zu Recht die Schlagzeilen dominierte. Erst die Zweifel, die Kritik im Vorfeld der EM. Dann sein Siegtor gegen Portugal. Dann die Zweifel, die Kritik vor dem Niederlande-Spiel. Es folgten seine beiden Tore gegen Oranje. Und dann, endlich, die verdiente mediale Verbeugung.
Tore überstrahlen alles, so auch bei dieser EM. So treffsicher Gomez mit seinen drei Toren in drei Spielen war, einige Kollegen im DFB-Team überzeugten mindestens ebenso. Allen voran: Sami Khedira. Beeindruckend, wie fehlerfrei der defensive Mittelfeldspieler agiert, stabilisiert und dirigiert. Dass Bastian Schweinsteiger schwächelte, fing Khedira mühelos auf. Der 25-Jährige ist enorm zweikampfstark (62 Prozent seiner Duelle gewonnen) und passsicher (88 Prozent zum Mann). Khedira mag ein eher stiller Typ sein, für die Nationalelf ist er inzwischen unverzichtbar.
2008 und 2010 hätte man in dieser Rubrik auch nahezu die gesamte spanische Nationalmannschaft nennen können. Doch der Welt- und Europameister hatte diesmal Mühe, ins Turnier zu finden - zum Gruppensieg reichte es dennoch. Das Kurzpassspiel ist immer noch beeindruckend, doch die Gegner haben sich zunehmend auf die Dauerzirkulationen eingestellt. Statt der beiden Ballverteiler Andrés Iniesta und Xavi könnte diesmal ein Angreifer Mann des Turniers werden: Fernando Torres. Nach einer schwierigen Zeit beim FC Chelsea präsentierte sich "El Niño" in der Gruppenphase in guter Form, war kaum zu verteidigen. Dass er bisher nur zweimal traf, lag auch daran, dass Vicente del Bosque das Tiki-Taka auf die Spitze treibt und gern mal ganz ohne Stürmer spielen lässt.
Die Enttäuschungen der Vorrunde
Über Stürmer sagt man ja gern: "90 Minuten lang war er nicht zu sehen - aber dann hat er sein Tor gemacht." Unsichtbarkeit, so denn gepaart mit einem Torerfolg, als Qualitätsmerkmal. Wenn man danach geht, war Cristiano Ronaldo bei dieser EM ein voller Erfolg. Wenn man aber danach geht, dass ein Top-Spieler möglichst auf den Punkt hin seine beste Leistung abrufen sollte, dann war der Portugiese in zwei Dritteln der Gruppenspiele eine große Enttäuschung. Schließlich zeigte er aber mit zwei Treffern und einem Dutzend Torschüssen gegen die Niederlande, dass er in der K.o.-Phase vielleicht doch der große Star des Turniers werden könnte.
Was sonst noch nervte? Der Nichtangriffspakt in der zweiten Halbzeit zwischen England und Frankreich (1:1), eine 45 Minuten lange Arbeitsverweigerung von 22 Fußballern. Auch die gesamte irische Nationalmannschaft - so sympathisch der Außenseiter auch sein mag - war eine Enttäuschung, weil man sich angesichts der drei Turnierauftritte mehr als einmal fragte, wie sich dieses Team überhaupt für die EM qualifizieren konnte.
Gut, das gilt auch für Griechenland. Ach ja, und an den Niederlanden kommt man an dieser Stelle auch nicht vorbei. Zum x-ten Mal als Mitfavorit angetreten, zum x-ten Mal enttäuscht. Diesmal reichte es nicht einmal zu einem Punkt, geschweige denn für das Viertelfinale. Oranje fehlt die Balance zwischen der großartigen Offensive und dem sehr mittelmäßigen Rest. Es fehlt an Teamgeist - und ganz offenbar auch an Nachwuchs. Um Abwehrspieler vom Format eines Holger Badstubers oder Mats Hummels beneidet die "Elftal" Deutschland nicht erst seit diesem Turnier.
Die Gastgeber
Polen enttäuschte sportlich auf ganzer Linie. Bis auf das Unentschieden gegen Russland konnte die Mannschaft die Erwartungen nicht erfüllen. Auch die Ukraine hatte sich mehr erträumt, doch Leidenschaft und Andrej Schewtschenko allein reichten leider nicht zum Weiterkommen. Zuletzt hatten die Unparteiischen einen klaren Treffer der Gastgeber gegen England übersehen - dabei stand der Torrichter nur wenige Meter entfernt.
Das große Organisationschaos blieb aus. In der Ukraine geriet zwar so mancher Flughafen an seine Grenzen, mit Englisch kam man nicht immer so weit, wie man sich das erhofft hatte. Kyrillisch lesen zu können, wäre deutlich hilfreicher gewesen. In Polen verlief das Reisen nahezu reibungslos, die Infrastruktur hat deutlich von dem Turnier profitiert. Die Atmosphäre war in beiden Ländern titelverdächtig: tolle, gutbesuchte Fanmeilen, frenetische Zuschauer, Schlachtgesänge und Anfeuerungen.
Das werden wir nicht vergessen
Wayne Rooney hat es eigentlich schon allein wegen seiner neuen Föhn-Frisur verdient, an dieser Stelle lobend erwähnt zu werden. Doch nicht nur mit seinen teuer erkauften Haaren hat der englische Angreifer alle Fußballfans bereichert. Nein, auch mit seiner Roten Karte in der Qualifikation, die ihn in den ersten beiden Partien zum Zuschauen zwang. Denn so bekam Danny Welbeck die Chance, sein erstes Turnier auf großer Bühne zu spielen. Sein Hackentor gegen Schweden teilt sich Platz eins in der Rangliste des bisher schönsten Turniertreffers mit dem Seitfallzieher von Zlatan Ibrahimovic im abschließenden Gruppenspiel gegen Frankreich.
Keine vier Minuten waren zwischen EM-Gastgeber Ukraine und Frankreich am zweiten Spieltag der Gruppe D gespielt, als heftige Gewitter Schiedsrichter Björn Kuipers zu einer Regen-Unterbrechung zwangen. Diese sollte rund eine Stunde lang dauern - und Bela Réthy in große Verlegenheit stürzen. Der ZDF-Kommentator kämpfte erst mit seinen Notizen, die sich langsam in ihre Bestandteile auflösten. Dann musste er auch noch ein albernes Regencape anziehen. Derart verpackt, lieferte der 55-Jährige eine verzweifelte Wetterreportage, vergeblich um Originalität bemüht. Verwandelten Günther Jauch und Marcel Reif mit ihrer Kommentierung gekonnt den Steilpass, den ihnen der Torfall von Madrid 1998 auflegte, vertändelte Réthy ihn wie Cristiano Ronaldo seine Großchancen gegen Dänemark.
Schade, Wolfgang Stark. Ärgerlich, Viktor Kassai. Beide Schiedsrichter zeigten zunächst gute Leistungen im Turnier, wie ihre Kollegen, sorgten aber am letzten Spieltag für Aufregung und wurden dabei jeweils von ihren Torrichtern im Stich gelassen. Stark verweigerte den Kroaten einen Elfmeter gegen Spanien, und im von Kassai geleiteten Spiel zwischen Ukraine und England wurde dem Co-Gastgeber ein Tor nicht zugesprochen. Bis dahin war diese EM eine richtig gute für die Referees. Dass es so viele zähe und langweilige Gruppenspiele gegeben hat, lag jedenfalls nicht an den im besten Sinne unauffälligen und umsichtig pfeifenden Schiedsrichtern.
Und sonst? Die Inbrunst der irischen Jubelgesänge während der 0:4-Klatsche gegen Spanien - wenn schon untergehen, dann wenigstens laut. Jérôme Boatengs Tackling gegen den einschussbereiten Cristiano Ronaldo. Und schon jetzt steht fest: Diese EM kommt ohne ein torloses Spiel aus, in der Gruppenphase gab es kein einziges 0:0.
Das werden wir gern vergessen
Die 71 Minuten von Deutschland gegen Portugal bis zum Gomez-Tor.
Die Unsitte Ellbogen-Fouls: Bei gefühlt jedem zweiten Kopfballduell landete ein Arm im Gesicht des Gegners.
Der EM-Modus: Die Rechnerei bei den Gruppenkonstellationen nervte und war kaum noch nachzuvollziehen.
Und auch wenn's nett gemeint war: die zähen Eröffnungszeremonien vor jedem Spiel.
Was uns bisher gefehlt hat
Innovationen: Sowohl auf dem Feld als auch außerhalb. Alles ist zwar noch einen Tick schriller, bunter, größer geworden, noch mehr TV-Stationen sind vor Ort. Aber es gibt nichts, was einem nach dieser Vorrunde als charakteristisch für dieses Turnier oder für die beiden Austragungsländer bleiben würde. Sieben Spiele gibt es noch. Es wird Zeit.
14 BilderBilanz der EM-Gruppenphase: Die Highlights der Vorrunde in Bildern
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Nass oder stumpf: Bundestrainer Joachim Löw checkte den Rasen im Stadion von Lemberg, damit seine Spieler auch ja nicht aufgrund der Unterlage benachteiligt würden. Viel wurde geschimpft über das Grün in den EM-Stadien - doch ob die Geschwindigkeitsarmut tatsächlich daran lag?
Foto: THOMAS BOHLEN/ REUTERS
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Duell auf Augenhöhe: Für einen Höhepunkt sorgte die Partie zwischen Italien und Spanien (1:1). Die Azzurri, vor dem Turnierstart von heftigen Problemen gebeutelt, hielten den Weltmeister ordentlich auf Trab.
Foto: Matt Dunham/ AP
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Torjubel der besonderen Art: Mario Gomez strafte seine Kritiker mit drei Toren Lügen - und die Treffer konnten sich wirklich sehen lassen. Das konnte auch...
Foto: Thomas Eisenhuth/ dpa
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...Gomez' Teamkollege Sami Khedira. Der Mittelfeldspieler von Real Madrid agierte und dirigierte fehlerfrei. Er ersetzte das, was Bastian Schweinsteiger vermissen ließ. Aus der DFB-Elf nicht mehr wegzudenken.
Foto: Martin Rose/ Getty Images
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Superstar mit zwei Gesichtern: Bei der EM zeigte sich Cristiano Ronaldo von sehr unterschiedlichen Seiten. Während er in den ersten beiden Spielen seines portugiesischen Teams enttäuschte,...
Foto: Julian Finney/ Getty Images
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...schoss er die Portugiesen mit zwei Toren beim Sieg über die Niederlande beinahe im Alleingang ins Viertelfinale.
Foto: SERGEI SUPINSKY/ AFP
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Nicht die feine Art: Bei auffällig vielen Kopfballduellen wurden die Ellenbogen ausgefahren - doch nur in den seltensten Fällen wurden diese Fouls von den Schiedsrichtern geahndet. Ähnlich überflüssig...
Foto: PATRIK STOLLARZ/ AFP
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...wie der "Nichtangriffspakt" in der zweiten Halbzeit zwischen England und Frankreich (1:1). Das Spiel kam über weite Strecken einer Arbeitsverweigerung der Teams gleich.
Foto: DPA
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Als erstes ausgeschieden: Die irische Mannschaft konnte in keinem der drei Gruppenspiele beweisen, dass es sich verdient für die EM qualifiziert hatte. Das versuchten die emsig feiernden irischen Fans wieder wettzumachen - vergebliche Mühe.
Foto: Andreas Gebert/ dpa
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Vergeblich auch die Trauerarbeit Arjen Robbens mit seinem Mitspieler Wesley Sneijder: Der Vize-Weltmeister enttäuschte auf ganzer Linie. Sportlich brillant...
Foto: Jerry Lampen/ dpa
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...war hingegen das Hackentor des Engländers Danny Welbeck gegen Schweden. Der bislang schönste Treffer der EM.
Foto: Alex Livesey/ Getty Images
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Wetterkapriolen: Mal war es zu heiß, dann zu nass - die klimatischen Bedingungen machten es Spielern und Organisatoren nicht leicht. Besonders heftig traf es das Spiel zwischen Frankreich und der Ukraine. Wegen Starkregens musste die Partie kurz nach dem Anpfiff für 40 Minuten unterbrochen werden.
Foto: Tolga Bozoglu/ dpa
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Über die Rote Karte gegen den polnischen Wojciech Szczesny lässt sich streiten. Unfreiwilliger Profiteur war Polens Ersatztorwart Przemyslaw Tyton, der den anschließenden Elfmeter - den bislang einzigen des Turniers - von Giorgos Karagounis parierte.
Foto: Getty Images
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Wielkie rozczarowanie - große Enttäuschung: Die polnische Mannschaft konnte nicht überzeugen, verdient schied die Mannschaft nach der Gruppenphase aus.