Dortmunds Emre Can Löst er Löws Abwehrproblem?

Dortmund-Profi Emre Can (r.), Gegenspieler Lars Stindl am 2. März: Cool bleiben, Haken schlagen, dribbeln
Foto: Federico Gambarini / dpaEmre Can hatte den Ball am Fuß und das Spiel vor sich, als sein Gegner auf ihn zustürmte. Gladbachs Lars Stindl versuchte, ihn zum langen Ball zu zwingen, doch Can blieb cool, er legte sich den Ball an Stindl vorbei und zog das Tempo an. Was dann geschah, machte die Szene aus dem Dortmunder Pokalspiel in Mönchengladbach so interessant.
Can suchte nach einem Mitspieler. Er fand Jude Bellingham, und für einen Augenblick schien er ihm den Ball zuspielen zu wollen. Doch das wäre ein Fehler gewesen. In Bellinghams Rücken pirschte sich bereits ein Verteidiger heran, auf den Pass lauernd und bereit, ihn abzufangen.
Aber Can spielte den Pass nicht.
Obwohl der Druck groß war, denn hinter ihm ließ Stindl nicht locker, und obwohl sich vor ihm Gladbacher aufbauten, schlug Can einen Haken und dribbelte in Richtung Spielfeldmitte. Dann verlagerte er den Ball nach außen. Der BVB behielt den Ball, Gladbach konnte nicht kontern.
Die Fähigkeit, Gefahren zu erkennen
Die Szene mag unscheinbar wirken, doch sie zeigt viel von dem, was Emre Can, 27, ausmacht. Offensivgeist und Mut, um in brenzligen Situationen ins Dribbling zu gehen. Technik und Tempo, die das Dribbling verlangt. Vor allem aber die Fähigkeit, mögliche Gefahren zu erkennen. Den naheliegenden und doch so bedrohlichen Pass zu vermeiden, das hätte nicht jeder Profifußballer getan.
Als Nachwuchsspieler fiel Can einst bei der U17-WM in Mexiko auf, als er das DFB-Team bis ins Halbfinale führte: als zentraler Mittelfeldspieler, der Bälle eroberte und verteilte. Auch später, unter anderem beim FC Liverpool und Juventus, wurde er vor allem im Mittelfeld eingesetzt. Bei Borussia Dortmund spielt er derzeit in der Innenverteidigung, notgedrungen. Auch am Abend, wenn der BVB im Bundesliga-Topspiel beim FC Bayern München antritt, dürfte er in der Abwehr beginnen (18.30 Uhr; TV: Sky; Liveticker SPIEGEL.de).
»Wissen, dass es nicht seine Lieblingsposition ist«
»Wir wissen, dass es nicht seine Lieblingsposition ist«, sagte BVB-Coach Edin Terzić nun im »Kicker«, »aber die Situation war verletzungsbedingt so, dass wir basteln mussten«. Eigentlich spielt neben Mats Hummels im Abwehrzentrum Manuel Akanji, aber der fehlt gerade. Also hilft Can aus. Das hat er während seiner Karriere oft getan, gerade auch im Trikot der Nationalmannschaft. Er war dort Sechser, aber auch Rechtsverteidiger und zentraler Abwehrspieler. In der laufenden Saison springt Can so häufig zwischen den Positionen, dass Terzić kürzlich scherzte, sein Spieler möge bitte Handschuhe parat halten, falls im Tor Not herrsche.
Zuletzt spielte Can beim BVB dreimal am Stück als Innenverteidiger. Dreimal gewann das Team, jeweils zu null. Er macht seine Sache so gut, dass er die Frage aufwirft, ob man die Aushilfe nicht befördern sollte. Ob Can nicht eigentlich Stammspieler in der Abwehrzentrale der Nationalmannschaft sein müsste.

Grätschender Can im DFB-Trikot, hier im Duell mit Spaniens Ferrán Torres
Foto:Pressefoto Rudel/Robin Rudel / imago images/Sportfoto Rudel
Denn die bleibt für Joachim Löw drei Monate vor der EM eine Baustelle. Zwar liefert Antonio Rüdiger unter Thomas Tuchel beim FC Chelsea gerade ein Zu-Null-Spiel nach dem anderen ab. Er dürfte im DFB-Team gesetzt sein. Aber neben ihm wird es dünn.
Niklas Süle durchlebt eine für die eigenen Verhältnisse schwächere Saison, Hummels und Jérôme Boateng hat der Bundestrainer aussortiert (wenn auch zuletzt die Option einer Rückkehr offengelassen wurde), Matthias Ginter ist ein verlässlicher, aber kein überragender Verteidiger. Blieben Kandidaten wie Jonathan Tah, Lukas Klostermann oder Robin Koch, die bislang eigentlich in Reihe zwei standen.
Ist Can also die Antwort?
Er kann eine Wucht entfalten, am Boden und in der Luft, die meist im Ballgewinn mündet. Statistisch gesehen gelingen ihm von allen DFB-Kandidaten die meisten Balleroberungen in ihrer jeweiligen Liga. Er geht mit Abstand am meisten ins Dribbling, was eine für Verteidiger unterschätzte Fähigkeit ist. Er spielt auch unter Druck ambitionierte Pässe. Dass der einzige Verteidiger, der in fast jedem Bereich etwas besser abschneidet als Can, den Namen Hummels trägt, soll nicht unerwähnt bleiben. Aber ob der zur EM darf, weiß nur Löw.
Der Erste, der den Teamkollegen lobt
Can bringt zudem Geschwindigkeit mit, gegen Bielefeld am vergangenen Samstag war er laut Sky der zweitschnellste Profi auf dem Platz, nur Erling Haaland (34,62 km/h) war schneller als Can (33,13). Von den DFB-Kandidaten dürften nur Klostermann und vielleicht Rüdiger flinker sein. Am Abend, gegen die temporeichen Bayern-Stürmer, wird dieses Tempo gefragt sein.
Darüber hinaus übernimmt Can gern Verantwortung. Er bietet sich ständig als Passempfänger an, spricht viel auf dem Platz, und er kann Teamkollegen antreiben. Als im Pokal gegen Gladbach der zuletzt anfällige Torwart Marwin Hitz mit einer Parade das 0:1 verhindert, war Can als Erster bei ihm, um ihn zu loben.
In jenem Spiel zeigte sich allerdings auch, was Can als Innenverteidiger fehlt.
Es sind Kleinigkeiten. Im defensiven Eins-gegen-eins verlagert er das Gewicht nicht genügend auf die Fußballen, um so schnell die Richtung wechseln zu können, wenn der gegnerische Stürmer dribbelt. Can geht das Leichtfüßige abhanden. Wenn er nicht abgesichert wird, ist er für wendige Stürmer zu bezwingen.
Anfällig für Überraschungen
Sowohl bei gegnerischen Kontersituationen als auch bei Flügelangriffen ist Cans Körperstellung nicht immer optimal. Es kommt vor, dass er wichtige Spielfeldbereiche im toten Winkel lässt. Damit macht er sich anfällig für Überraschungen, ein Gegenspieler taucht dann plötzlich im Sichtfeld auf und hat einen Vorsprung, denn Can kann bloß reagieren. Das passiert ihm nicht oft während eines Spiels, aber es passiert.
Can macht seine Sache in der Abwehr trotzdem sehr gut – so, wie ein taktisch intelligenter Spieler eine Rolle ausfüllt, für die er nicht ausgebildet worden ist. Can funktioniert in der Abwehr, weil er gute Entscheidungen trifft. Wie bei der eingangs beschriebenen Szene gegen Gladbach: Er hat das Spiel verstanden, das merkt man ihm an. Und trotzdem hat er im Vergleich mit den besten Abwehr-Spezialisten auf dieser Position das Nachsehen.
Das heißt zwar nicht, dass Can nicht in der Abwehr spielt, wenn Deutschland bei der EM aufläuft, vor allem, wenn sich Löw entscheiden sollte, drei Innenverteidiger aufzubieten. Und diese Verteidigung wäre eine gute, das DFB-Team hätte Frankreich mit Kylian Mbappé, Portugal mit Cristiano Ronaldo, ein starkes Zentrum entgegenzusetzen.
Nur: Die denkbar beste Lösung wäre es nicht.