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Polizeieinsatz in Marseille Übermüdet, überfordert, überreizt

Frankreichs größte Angst vor der EM war ein Terrorangriff. Die ersten Turniertage in Marseille haben gezeigt, dass die Polizei schon mit den erwartbaren Krawallen von Hooligans Probleme hat.

Es ist kurz vor 1 Uhr in der Nacht auf Sonntag, die Polizei hat erneut mehrere Straßen rund um den Alten Hafen abgesperrt. Ein schwarzer 3er-BMW, französisches Kennzeichen, versucht dennoch langsam in eine der abgeriegelten Gassen einzubiegen.

Sofort springen einige Polizisten der Compagnies Républicaines de Sécurité, vergleichbar mit der Bereitschaftspolizei, vor das Auto auf die Straße, einer tritt mit voller Wucht gegen den Kühlergrill, ein anderer reißt die Tür auf und schlägt dem Fahrer, einem jungen Mann, ins Gesicht.

Acht Polizisten stehen nun um das Fahrzeug, der Beifahrer, ebenfalls Mitte zwanzig, öffnet die Tür, beschwert sich über die Tritte und Schläge. Ein Polizist drückt den Mann zurück in seinen Sitz, sprüht ihm Tränengas ins Gesicht und schlägt die Tür zu.

Polizisten in Marseille stoppen ein Auto gewaltsam

Polizisten in Marseille stoppen ein Auto gewaltsam

Foto: Laurent Cipriani/ AP

Die Polizisten sehen dem Auto nach, das wendet und davonfährt. Der vierte Tag ist gerade angebrochen, an dem Marseille im Chaos versinkt. Bei der Polizei liegen die Nerven blank.

90.000 Sicherheitskräfte rund um die EM hatte die französische Regierung angekündigt, um Terroranschläge zu verhindern. Das war die große Angst der Veranstalter, des Landes, der Fans. Vor den Hooligans, die den Start der Euro in Marseille und auch in Nizza mit ihren Ausschreitungen überschatten, war ebenfalls frühzeitig gewarnt worden, viel gebracht hat das aber anscheinend nicht.

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Schwere Krawalle: Straßenschlachten in Marseille

Foto: Guillaume Horcajuelo/ dpa

Hinzu kommt die Erschöpfung vieler Beamter: Seit den Anschlägen im vergangenen November ist an vielen Orten im Land das Polizeiaufgebot deutlich erhöht - und damit die Arbeitsbelastung für jeden Beamten. Ja, sie seien müde, sagt ein junger Polizist, der am Hafen verschnauft, während im Stadion gerade das Spiel zu Ende geht. "Darum ist die Pause jetzt gut. Denn nachher geht der Kampf weiter, da bin ich sicher."

Genaue Zahlen, wie viele Polizisten in den unübersichtlichen, kleinen Gassen der Innenstadt von Marseille im Einsatz sind, wurden bisher nicht genannt. Die Sport-Tageszeitung "L'Equipe" schreibt von 250 Beamten - das wären erstaunlich wenig. Die Tageszeitung "Le Monde" berichtet von 1200 Polizisten, die das Spiel im Stade Vélodrome sichern sollten sowie von zusätzlich 580 Kräften der Marine, die Marins Pompiers, und 51 Feuerwehrleuten.

Die Polizei trennt Fans mit einem Wasserwerfer

Die Polizei trennt Fans mit einem Wasserwerfer

Foto: Niall Carson/ AP

Am Stadion kam es vor dem Spiel zu Krawallen und mit dem Schlusspfiff zum Blocksturm durch russische Hooligans. Später ging es in der Innenstadt weiter, die Polizei fuhr einen Wasserwerfer auf und verschoss Tränengas in Richtung größerer Menschengruppen. Neben Engländern waren an diesem Abend auch viele Franzosen darunter. Schon am Nachmittag hatten Einheimische sich Schlachten mit der Polizei und den englischen Fans geliefert. Laut englischen Polizisten, die ihre französischen Kollegen als Hooligan-Experten unterstützen sollen, handelte es sich vermutlich um Ultras von Olympique Marseille.

Auch zwischen Russen und Engländern war es bereits am Nachmittag zu direkten, schweren Auseinandersetzungen gekommen: Rund 200 russische Hooligans hatten englische Fans gejagt und mit Eisenstangen auf sie eingeschlagen, ein Augenzeuge sprach auch von einer Axt. Ein 51 Jahre altes Opfer erlitt am Boden liegend mehrere Tritte gegen den Kopf. Der Mann schwebe noch in Lebensgefahr, schrieb am Abend die britische Tageszeitung "The Guardian". Unter den russischen Hooligans sind nach Angaben der offiziellen russischen Fanvereinigung Anhänger von Lokomotive Moskau und Zenit St. Petersburg.

Der Grund für die Kämpfe ist laut Alexander Shprygin, Vorsitzender der Vereinigung, das "schlechte Benehmen" der englischen Fans, die zu viel getrunken hätten.

Das Vorgehen der russischen Hools wirkte aber weniger wie eine wütende Reaktion auf Provokationen durch Betrunkene, sondern eher wie geplante Angriffe. Auch waren die Russen einheitlich schwarz gekleidet und vermummt. "Sie kamen aus dem Nichts", erinnert sich ein englischer Fan.

Die Uefa prüft die Vorfälle in Marseille bereits und berät über mögliche Konsequenzen. Für die Stadt in Südfrankreich bleibt die Hoffnung, dass nach dem Ende der Begegnung zwischen England und Russland das Schlimmste überstanden ist. Fragt sich, was bei den nächsten Auftritten der beiden Teams passiert. Das britische Duell zwischen England und Wales in Lens am Donnerstag (15 Uhr, High-Liveticker SPIEGEL ONLINE) birgt erneut große Brisanz.

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