Taktik-Analyse Wie die Bayern ihre Mitte verloren

Spieler des FC Bayern bei der Erwärmung: Nur noch offensiv spitze
Foto: Alex Grimm / Getty ImagesNach dem 1:5 des FC Bayern München in Frankfurt trennte sich der Klub von Trainer Niko Kovac - eine nachvollziehbare Entscheidung für die meisten Medien. Auch beim SPIEGEL hieß es, sie sei alternativlos gewesen.
Aber war wirklich Kovac das Problem? Oder hat die Schwäche der Bayern tiefere Gründe?
Diese Statistik zeigt, dass die Bayern unter Kovac tatsächlich ungewöhnlich schlecht gespielt haben. Ihre Offensive verkörpert zwar europäisches Topniveau. Doch das Team lässt mehr Chancen zu als gewohnt. Die Anzahl der Gegentore (16 nach zehn Ligaspielen - 2016 waren es 17 nach 34) ist bedenklich hoch.
Eigentlich galt Kovac als Trainer, der sich besonders aufs Pressing, auf das Spiel gegen den Ball versteht. Aber die Zahlen deuten an, dass der FC Bayern vor allem defensiv seit Jahren stetig nachlässt. Wenig zwar, und es reichte stets für zumindest einen Titel pro Saison. Doch den Trend konnte Kovac nicht stoppen, er hat sich unter ihm sogar verschärft.
Der FC Bayern mag im Herbst 2019 hinten oft gewackelt haben. Sein Angriff gehört aber noch immer zur Elite. Nur drei Mannschaften in Europas Topligen haben im Schnitt mehr Tore erzielt (Manchester City, Atalanta, Barcelona).

FC Bayern unter Kovac: Dreimal so viele Gegentore wie 2016
Foto: Uwe Anspach / DPAWenn die Bayern in der Offensive sind, lauern bis zu vier Spieler nahe der gegnerischen Abwehrkette, bereit, in deren Rücken zu sprinten. Timing dieser Tiefenläufe und des Passgebers, oft Thiago oder Joshua Kimmich, sind gut abgestimmt, die Bayern entfalten ungeheure Wucht. Sie können Defensivreihen im Wortsinn überrennen.
Aber das hat seinen Preis.
Offensive und Defensive lassen sich nicht getrennt betrachten, beide bedingen sich gegenseitig. Die hohe und breite Positionierung vieler Offensivspieler führt dazu, dass das Mittelfeldzentrum unterbesetzt ist. Beim 2:2 in Augsburg, beim 3:2 in Piräus, zuletzt in Frankfurt, stets kontrollierte der Gegner die Mitte, das einstige Hoheitsgebiet der Bayern.
Die bayerische Dominanz der vergangenen Jahre basierte aus taktischer Sicht auf einigen wesentlichen Konzepten.
- Da ist das Positionsspiel der niederländischen Fußballschule, das Louis van Gaal 2009 in den Klub brachte. Den Profis wurden Zonen zugewiesen, die sie je nach Spielsituation besetzen müssen. Wenn alle mitmachen, stehen dem Ballführenden stets Passoptionen zur Verfügung, und er kann sie nahezu blind anspielen.
- Jupp Heynckes machte das Positionsspiel flexibler und damit schwerer zu berechnen. Vor allem führte er das Gegenpressing ein, also das direkte Nachsetzen nach Ballverlusten.
- Pep Guardiola war ein Meister darin, das eigene Spiel an gegnerische Stärken und Schwächen anzupassen. Das Resultat war eine Dominanzmaschine, ein Team, das seine Gegner systematisch in deren Strafraum drängte und festnagelte.
Von diesem Niveau sind die Bayern weit entfernt. Sie haben zwar immer noch viel Ballbesitz, greifen aber weniger durchs Zentrum an und mehr über die Außen. Die Bayern haben die Mitte verloren. Und ihre Geduld.
Absicherung lässt sich auch herstellen, indem die Abwehr in Ballbesitz aufrückt, die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen gering bleiben. In München aber suchten sie zuletzt häufig direkt den Weg nach vorn. Benjamin Pavard etwa begann manchen Angriff, obwohl er und seine Verteidigerkollegen zu tief standen, um kompakt nachzurücken. Wenn der Pass ankommt, wird es gefährlich für den Gegner. Aber wenn nicht, dann für die Bayern.
In dieser Saison haben zehn Bundesligisten weniger Treffer zugelassen als die Münchner. Die müssen sich fragen lassen, ob sie ein Qualitätsproblem haben, auf der Sechs mit dem langsamer werdenden Javier Martínez, in der Abwehr mit Alphonso Davies und Pavard. Die Defensivmängel sind aber auch eine Folge davon, dass die Mannschaft nicht immer gemeinsam angreift. Es liegt am neuen Trainer, das zu ändern.
Aber welcher ist nun der Richtige für den Job?
Einen Defensivspezialisten zu verpflichten, mag aufgrund der Gegentore logisch wirken. Aber das ist nur ratsam, wenn dieser das Verteidigen bereits beim Angreifen mitdenkt. Es braucht einen Trainer, der an den Details feilt, für den es wichtig ist, ob ein Mittelfeldspieler in Ballbesitz vier Meter zu tief steht. Boateng, Müller, Lewandowski, Kimmich, Thiago, sie alle haben schon unter Guardiola gespielt, sie wissen, wie es ist, von einem Fußballbesessenen trainiert zu werden. Einem, der sie vielleicht nervt, aber besser macht. Auch so lässt sich Manuel Neuers Aussage deuten, die Pässe im Spiel der Bayern müssten wieder eine Message haben.
Thomas Tuchel wäre so einer, der aber steht in Paris bis 2021 unter Vertrag und sagte am Dienstag, er habe nicht vor, diesen zu brechen. Ralf Rangnick würde die Münchner Defizite vermutlich sehr schnell beheben können, Pressing und Gegenpressing beherrschen seine Teams. Dafür könnten andere Probleme entstehen, denn gegen tiefe Abwehrreihen fanden seine Mannschaften nicht immer die richtigen Mittel. Allerdings hat Rangnick bereits absagen lassen.
Stattdessen, heißt es bei "Bild", spreche nun alles für Arsène Wenger als Lösung bis zum Saisonende. Wenger war bis 2018 Trainer beim FC Arsenal. Der Stil seiner Mannschaft war geprägt von Kreativität und Eigenverantwortung der Spieler. Zum Schluss wirkte sein Arsenal, als habe es den Anschluss an die taktische Moderne verpasst.
Der gehandelte Erik ten Hag scheint passender, seine Ajax-Mannschaft spielt modernen, auf Dominanz ausgerichteten Fußball. Er ist allerdings frühestens im Sommer zu haben. Gut möglich, dass bis dahin Interimstrainer Hansi Flick im Amt bleibt. Das dürfte davon abhängen, wie sich die Bayern am Abend in der Champions League gegen Olympiakos schlagen (18.55 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE; TV: Sky) - und vor allem am Samstag gegen den BVB.