4:4-Remis zwischen Chelsea und Ajax Vier Sekunden des Grauens

Die Ajax-Spieler können es nicht fassen: Schiedsrichter Gianluca Rocchi (2.v.l.) zeigt zweimal Gelb-Rot
Foto: John Walton/ DPA"Solche Geschichten schreibt nur der Fußball". Diese Phrase wird viel zu beliebig eingesetzt, oft für nicht alltägliche, aber häufiger gesehene Geschehnisse auf den Fußballplätzen dieser Welt. Was aber in der 68. Minute beim 4:4 in der Champions League zwischen dem FC Chelsea und Ajax Amsterdam passierte, war tatsächlich ein im Profifußball außergewöhnlicher Vorgang. Solche Geschichten schreibt wirklich nur der Fußball.
Ajax führte an der Stamford Bridge überraschend 4:2, der Druck der Gastgeber nahm nach dem zweiten Tor von César Azpilicueta zwar zu, doch für den Halbfinalisten der vergangenen Champions-League-Saison war der nächste Überraschungssieg greifbar. "Wir haben das Spiel kontrolliert", sagte Ajax-Trainer Erik ten Hag nach dem Spiel, "und dann änderte sich in einem Moment alles."

Erik ten Hag (links) sieht sich und sein Team ungerecht behandelt
Foto: Eddie Keogh/ REUTERSDieser Moment, den der vom FC Bayern München umworbene Coach beschrieb, dauerte vier Sekunden. Innenverteidiger Daley Blind war nach einem Zweikampf mit dem ehemaligen Dortmunder Christian Pulisic aus dem Gleichgewicht geraten und kam deshalb zu spät ins nächste direkte Duell mit Tammy Abraham. Blind foulte (67 Minuten, 20 Sekunden), Schiedsrichter Gianluca Rocchi unterbrach den Angriff jedoch nicht, sondern ließ den Vorteil gewähren.
Chelsea blieb in Ballbesitz, auf der linken Seite bekam der eingewechselte Callum Hudson-Odoi den Ball. Der Flügelspieler, der auch mal auf der Wunschliste der Bayern stand, zog in die Mitte und von der Strafraumgrenze ab. In der Schussbahn stand Joël Veltman, der zweite zentrale Abwehrspieler der Niederländer, und bekam seine Hand nicht mehr rechtzeitig aus dem Weg (67:24). Vier Sekunden waren zwischen diesen beiden Aktionen vergangen - für Ajax kippte in diesen Sekunden das gesamte Spiel.
Ajax verliert in einem Angriff beide Innenverteidiger
Rocchi pfiff den Angriff nach Veltmans Handspiel ab, kümmerte sich aber zunächst um Blind und dessen Foul an Abraham. Der 29-Jährige hatte in der ersten Hälfte für ein Foul an Mateo Kovacic die Gelbe Karte gesehen und Rocchi holte nun die zweite Verwarnung heraus und schickte Blind berechtigterweise mit Gelb-Rot vom Platz (67:32). Es folgten die mittlerweile üblichen Diskussionen der Ajax-Spieler mit dem Schiedsrichter, in der Zwischenzeit ließ sich Rocchi seinen Eindruck von Veltmans Handspiel durch den Videoschiedsrichter Paolo Valeri bestätigen.
Hier ist die Bewertung nicht so eindeutig wie bei Blinds Platzverweis. Veltman stand etwa acht Meter von Hudson-Odoi entfernt, er sah den Ball ohne Sichteinschränkung kommen und schaffte es nicht, seinen Körper oder den nah am Körper hängenden Arm wegzudrehen. Viele Abwehrspieler verteidigen solche Situationen mittlerweile mit den Armen auf dem Rücken, trotzdem war das weder ein eindeutiger Elfmeter noch eine klare Gelbe Karte. Rocchi entschied anders, weil er einen aussichtsreichen Angriff per Handspiel unterbunden sah.
Der italienische Schiedsrichter zeigte Veltman, der in der 31. Minute verwarnt worden war, ebenfalls Gelb und Rot (68:31) - Ajax hatte innerhalb eines Angriffs beide Innenverteidiger verloren. "Das war ein Fehler", sagte ten Hag. "Ja, der Ball kommt an die Hand, aber was soll er machen? Es war kein Handspiel, keine Verwarnung, aber wir müssen es akzeptieren." Den anschließenden Strafstoß verwandelte Jorginho zum 3:4 (70:29), in der folgenden Unordnung traf der 19-jährige Reece James im Anschluss an einen Eckball mit einem Rechtsschuss zum Ausgleich (73:04).

Der jüngste Torschütze in der Champions-League-Geschichte von Chelsea: Reece James
Foto: David Klein/ REUTERSIn doppelter Unterzahl und mit einer Restspielzeit von mehr als einer Viertelstunde rechneten viele mit einem kompletten Einbruch der Ajax-Mannschaft. Doch die Amsterdamer fingen sich und hatten durch den eingewechselten Edson Álvarez (86.) und Noussair Mazraoui (88.) sogar noch Chancen auf den fünften Treffer.
Für Chelsea-Trainer Frank Lampard fühlte sich das Remis wie ein Sieg an. "Natürlich müssen wir besser werden. Aber wir haben Willen und Charakter gezeigt. Damit können wir viel erreichen. Das liebe ich - und das lieben die Fans", sagte Lampard. "Ich habe in der Pause zu den Jungs gesagt, dass es 4:4 ausgehen wird."
In der Gruppe H ist nach dem Unentschieden weiterhin alles offen. Ajax führt die Tabelle mit sieben Punkten und dank des besseren Torverhältnisses an, doch Chelsea und der FC Valencia (4:1 gegen Lille) folgen punktgleich auf den Plätzen zwei und drei. Am 27. November tritt Chelsea in Valencia an, Ajax spielt dann in Lille. Die Entscheidung fällt vermutlich erst am letzten Spieltag (10. Dezember), wenn die Londoner Lille empfangen und Amsterdam auf Valencia trifft. "Wir haben alles noch in der eigenen Hand", sagte ten Hag. "Wenn wir solche Leistungen zeigen, werden wir sicher weiterkommen."
FC Chelsea - Ajax Amsterdam 4:4 (1:3)
0:1 Abraham (2./Eigentor)
1:1 Jorginho (5./Elfmeter)
1:2 Promes (20.)
1:3 Kepa (35./Eigentor)
1:4 Van de Beek (55.)
2:4 Azpilicueta (63.)
3:4 Jorginho (71./Elfmeter)
4:4 James (74.)
Chelsea: Kepa - Azpilicueta, Zouma, Tomori, Alonso (46. James) - Kovacic (87. Batshuayi), Jorginho, Mount (60. Hudson-Odoi) - Willian, Abraham, Pulisic
Ajax: Onana - Mazraoui, Veltman, Blind, Tagliafico - Van de Beek, Martínez - Neres (72. Schuurs), Ziyech (72. Álvarez), Promes - Tadic
Schiedsrichter: Rocchi (Italien)
Gelbe Karten: Azpilicueta, Tomori - Promes
Gelb-Rot: Blind, Veltman
Zuschauer: 41.000