Liverpools fünfte Heimspielpleite in Folge
Sie haben ihr Gesicht verloren
Verletzungen, Pech, die Qualifikation zur Champions League in großer Gefahr: Der FC Liverpool steckt nach der Chelsea-Pleite noch tiefer in der Krise. Manches erinnert an die Endzeit von Trainer Klopp beim BVB.
Der FC Liverpool gegen den FC Chelsea, dieses Spiel war dem Fachpublikum auf der Insel als das große Duell der deutschen Konzepttrainer angekündigt worden: Jürgen Klopps vertikaler Überfallfußball gegen das langsamere, von Pep Guardiolas Primat der Ballkontrolle beeinflusste Spiel von Thomas Tuchel.
Am Ende der Auseinandersetzung gewannen die Gäste aus London deutlicher, als es das 0:1 ausdrückte, konnten damit die programmatische Überlegenheit ihres Ansatzes aber nicht wirklich unter Beweis stellen. Dafür war der Wettbewerb der Ideen im Anfield-Stadion einfach viel zu ungleich ausgefallen: Liverpool war im Gegensatz zu den beschwingt aufspielenden Blues nie in der Lage gewesen, seinen Plan auf den Platz zu bringen.
Wie so oft in den vergangenen Wochen wirkte der verletzungsgeplagte Meister auch in der fünften Heimniederlage in Folge kraftlos, besonders im Angriff. Statistiker der »Times« hatten unter der Woche ausgerechnet, dass Liverpool gemessen an der eigenen und gegnerischen Torchancenqualität noch immer zu den besten vier Mannschaften der Premier League gehört; die Ergebnisse waren, mit anderen Worten, zuletzt schlechter als die Leistungen und durchaus mit Pech behaftet.
Gegen ein gut organisiertes Chelsea kamen die Reds jedoch binnen 90 Minuten zu keinem einzigen echten gefährlichen Abschluss, den Offensiv-Bemühungen fehlte es komplett an Wucht und Inspiration. »Wir haben bis zum letzten Drittel vieles richtig gemacht, aber nicht in den entscheidenden Momenten«, umschrieb Klopp das Dilemma mit sehr viel Wohlwollen. Er kann schlecht sagen, dass es seiner Elf nicht nur an den Details hapert, sondern, sehr viel fundamentaler, an dem, was sie in den Vorjahren so außergewöhnlich machte: ihrem explosiven Moment.
Gift für Beine und Kopf
»Intensität ist unsere Identität«, sagte Assistenztrainer Pep Lijnders vor einigen Monaten. Im Umkehrschluss wirkt Liverpool aktuell verloren, beinahe gesichtslos. Zahlreiche Ausfälle und die daraus resultierende Unfrische der Stammbelegschaft haben der Mannschaft im düsteren Verbund mit dem dichten Terminkalender und Corona-bedingten Geisterspielen ihre Vehemenz geraubt. Sinnbildlich dafür stand die Auswechslung von Stürmerstar Mohamed Salah in der 62. Minute.
»Er sah so aus, als ob ihm die Intensität zugesetzt hatte, wir wollten ihn beschützen«, sagte Klopp.
Der Ägypter wirkte völlig außer Form. Jene fünf bis zehn Prozent, die ihm momentan genau wie all den anderen wichtigen Akteuren fehlen, reichen, um Liverpool gegen gut gestaffelte Widersacher fast in jeder Partie vor größere Probleme zu stellen.
Mo Salah: Erzielte 2021 in der Premier League erst vier Treffer in elf Spielen
Foto: Phil Noble / AP
Aber auch Liverpools Pressing funktionierte in Ermangelung von Konsequenz so gut wie gar nicht. Tuchels Elf verschlimmerte die Misere, in dem sie die Gastgeber zunächst mit langen Bällen über die hoch postierte Abwehr auseinander zogen – so fiel das Tor von Mason Mount (42. Minute) – und die Roten später nach Ballgewinn mit langen Kurzpasskombinationen über den Rasen scheuchten. Die vielen Meter ohne Spielgerät waren sichtlich Gift für Beine und Kopf bei den Hausherren.
Mit Tuchel alles im Fluss
»Es war eine komplexe Performance, bei der vieles stimmte: unser Gegenpressing, unser defensiver Wille, der Mut, sich spielerisch aus dem Druck zu befreien«, freute sich Tuchel. Chelsea ist seit seiner Ankunft zehn Spiele ungeschlagen (acht Siege), hinten mit Dreierkette kaum zu knacken und vorne aufgrund der hohen Kaderdichte variabel wie kein anderes Team in der Liga. Seit sich zu den hohen technischen Fähigkeiten der Truppe auch konkrete taktische Anweisungen von der Bank gesellen, blüht ihr Spiel regelrecht auf. Alles ist in Fluss, im Rhythmus. Die Londoner tänzelten sich mit dem Sieg auf Platz vier vor und werden in dieser Verfassung auf den Champions-League-Plätzen landen.
Eben dieses Minimalziel ist auf anderer Seit stark gefährdet. »Wer so viele Spiele verliert, hat nicht das Recht, in der Champions League zu spielen«, sagte Klopp. Sein Klub steht mittlerweile auf dem siebten Platz, die Krise erinnert entfernt an die Probleme aus Klopp letzter Saison-Hinrunde in Dortmund, als man urplötzlich auf den 17. Platz abrutschte.
Auch damals waren, wie Analysten später feststellten, die Resultate unverhältnismäßig schlecht, aber dennoch so viele Kleinigkeiten nicht in Ordnung, dass das Große-Ganze nicht mehr stimmte. »Wir hatten nicht die gewohnte Systemsicherheit, machten systematische Fehler im Defensivverhalten, waren wahnsinnig anfällig bei Kontern«, sagte Klopps Assistent Peter Krawietz im Rückblick. »Wir konnten den Impuls des Gegenpressings nicht nachhaltig umsetzen, aber es war keine Zeit, das zu trainieren.«
Vor sechs Jahren brachte die Winterpause, die warme Sonne in Marbella und viele Einheiten auf dem Trainingsplatz die rechtzeitige Wende beim BVB. Doch genau so eine Luftveränderung ist momentan leider nicht möglich. Liverpool muss sich in der kalten, gespenstisch stillen Stadt allein aus der Ödnis herausarbeiten.