FC Liverpool Stotternde Siegesmaschine

Jürgen Klopp
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Jürgen Klopp saß da, die Hände in den Jackentaschen, der Blick starr und hörte ganz still zu. Ein Journalist auf der Pressekonferenz fragte nach Liverpools Aussichten im Titelrennen. Klopp verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wie albern wäre das«, holte Klopp aus, »wenn ich jetzt, nach einer Niederlage gegen Burnley und nachdem wir, ich weiß gar nicht: drei? vier? Spiele nicht getroffen haben, über das Titelrennen reden würde?«
Klopp, 53, hat den FC Liverpool seit seinem Amtsantritt 2015 zu einem Spitzenteam gemacht, und das ist eigentlich sogar untertrieben. Der Trainer brachte seine eigene Spielidee mit, er formte allmählich eine Siegesmaschine, die unbezwingbar wirkte. 2019 gewann Liverpool die Champions League, im vergangenen Sommer die erste Meisterschaft seit 30 Jahren. Seit er da war, war es für Klopp bergauf gegangen. Dieser Meistertitel war sein Gipfel.
Nun aber scheint es abwärts zu gehen.
Krise, das ist ein großes Wort, es klingt so existenziell. Gemessen an den eigenen Maßstäben, an dem also, was der Klub insbesondere in den vergangenen drei Jahren abgeliefert hat, scheint es aktuell aber nicht zu groß. Das 0:1 am Donnerstagabend gegen Burnley bedeutet, dass Liverpool inzwischen schon fünf Ligaspiele hintereinander nicht mehr gewonnen hat. Letztmals hatte es das vor mehr als zehn Jahren gegeben.
In den vergangenen vier Spielen gelang den Reds nicht einmal mehr ein Tor. Seit dem letzten Treffer durch Sadio Mané gegen West Brom gab das Team 86 Schüsse ab, keiner ging rein, ganz gleich, wie groß die Chance auch war. Gegen Burnley lief Stürmer Divock Origi nach einem zu kurz geratenen Rückpass eines Gegenspielers ungestört aufs Tor zu. Er traf die Latte.
Nun hat Liverpool nach 19 Partien so wenig Punkte wie seit der Saison 2015/2016 nicht mehr. Sollte Manchester City sein Nachholspiel gewinnen, beträgt der Rückstand auf Platz eins bereits sieben Punkte.
Warum fliegen Bälle plötzlich an die Latte, die vorher noch im Tor gelandet wären? Warum gewinnt Liverpool nicht mehr?
Es gibt viele kleinere und große Antworten darauf. Einige von ihnen machen Liverpool Mut: Sie suggerieren, dass die Reds schon sehr bald wieder anfangen werden zu siegen. Andere wiederum weisen darauf hin, dass das nicht ausreichen könnte, um den Titel erfolgreich zu verteidigen.
Sieben Treffer wären wahrscheinlich gewesen. Liverpool gelang keiner
Für ein baldiges Ende des Negativlaufs spricht eine Zahl: 6,55. Sie beschreibt Liverpools Expected Goals-Wert seit dem bislang letzten Torerfolg. Es gibt verschiedene Expected Goals-Modelle; sie alle berechnen, wie wahrscheinlich ein Torerfolg von einem bestimmten Punkt auf dem Feld ist. Vereinfacht gesagt bedeutet das: Mit den Chancen, die sich das Team zuletzt erspielt hat, wären etwa sieben Treffer wahrscheinlich gewesen. Liverpool gelang keiner.
Eine solch unwahrscheinliche Ausbeute wird kaum anhalten. Das bedeutet: Sofern sich Liverpool stetig Chancen erspielt wie zuletzt, werden die Tore wieder fallen.
Klopp kennt Modelle wie die Expected Goals. Vielleicht hatte er auch die aktuellen Zahlen im Sinn, als er nach dem Burnley-Spiel sagte, Liverpool mache gerade »nicht die glücklichste Phase unseres Lebens« durch. Sein Team habe schon Spiele mit weniger Chancen gegen Burnley gewonnen.
Tatsächlich war es insbesondere während der vergangenen drei Jahre ein Liverpooler Markenzeichen gewesen, auch enge Spiele mit wenigen Torchancen für sich zu entscheiden. Egal wie gut der Gegner zu verteidigen schien: Irgendwann fand ein Tiefenpass Mohamed Salah, eine Flanke Sadio Mané. Gerade dann, wenn sich das Spiel seinem Ende zuneigte, begann Liverpools Zeit. Das wirkte fast unheimlich. Wer die Zahlen hinter den Siegen betrachtete, ahnte aber schon da, dass neben dem taktischen Fundament, der Klasse der Spieler und der Mentalität der Mannschaft auch ein wenig Glück im Spiel gewesen war. Fast immer gewann Liverpool jene Partien, die statistisch gesehen gut hätten remis enden können. Aktuell gewinnt Liverpool solche Spiele nicht mehr, sie gehen sogar verloren.
Die Torerfolge mögen bald zurückkehren. Die Defensivprobleme aber dürften bleiben. 22 Tore hat Liverpool in 19 Spielen kassiert. Von »Problemen« zu sprechen, mag da harsch klingen. Im Vorjahr aber waren es zum gleichen Saisonzeitpunkt 14 Gegentore gewesen, davor sogar nur sieben. Und die Daten hinter jenen 22 aktuellen Gegentreffern deuten darauf hin, dass diese nicht sonderlich unwahrscheinlich zustande gekommen sind.
Das liegt gewiss auch am Fehlen des langzeitverletzten Abwehrchefs Virgil van Dijk. Aber: Das Verteidigen, von je her die Basis aller Klopp-Mannschaften, begann schon zu Dortmunder Zeiten nicht vorm eigenen Tor, sondern am gegnerischen Strafraum. Den Spielaufbau des Gegners unter Druck setzen; nach eigenen Ballverlusten sofort und koordiniert pressen, das waren Klopps Markenzeichen. All das kostete Kraft. Bloß ist das mit der Kraft aktuell so eine Sache. Der Spielplan ist in Coronazeiten eng getaktet, die Belastung enorm. Nahezu im Wochenrhythmus ist zu beobachten, dass Premier-League-Teams weniger pressen.
Liverpools Spieler sprinten noch immer viel, aber sie wirken auch: erschöpft. Gegen Burnley schien es, als wollte das Team den Erfolg zum Ende hin erzwingen, aber Dinge, die üblicherweise hundertmal in Folge gelingen, wurden plötzlich zur harten Nuss. Als Trent Alexander-Arnold kurz vor Schluss den Ball nicht zu Teamkollege Andy Robertson spielte, sondern an diesem vorbei ins Toraus, ohne Not, ohne Druck, da drehte er um und setzte sich in Bewegung, beinahe konnte man auf den Gedanken kommen, er wolle direkt in die Kabine, Schluss, Aus, ich mag nicht mehr; aber Alexander-Arnold ging bloß zurück auf seine Position. Robertson starrte ihm scheinbar fassungslos hinterher.
»Unser Selbstvertrauen ist gerade nicht auf höchsten Level«, sagte Klopp nach dem Spiel. Er sprach darüber, dass die Mannschaft vieles richtig mache, aber sobald es eng werde, falsche Entscheidungen treffe. »Wir müssen wieder wir selbst werden, wenn es darauf ankommt«, sagte er, und: »90 Prozent von dem, was uns ausmacht, ist immer noch da. Es fehlen nur diese zehn Prozent.«
Zehn Prozent können in der Premier League allerdings eine ganze Menge sein.