Champions-League-Finalist Warum vieles, was Sie über den FC Liverpool glauben, falsch ist

Kaum ein Klub ist so emotional wie der FC Liverpool? Kein Trainer energischer als Jürgen Klopp? Bloß Klischees. Worauf der Erfolg des Champions-League-Finalisten wirklich basiert.
Liverpool-Coach Jürgen Klopp: Vollgas-Fußball

Liverpool-Coach Jürgen Klopp: Vollgas-Fußball

Foto: PAUL ELLIS/ AFP

Am Samstag steigt das wichtigste Spiel im Klubfußball: das Finale der Champions League (21 Uhr; Liveticker SPIEGEL ONLINE; TV und Stream: Sky und Dazn). Der FC Liverpool tritt gegen Tottenham Hotspur an. Mit Trainer Jürgen Klopp könnten die Reds ihren ersten großen Titel seit 13 Jahren feiern.

Sollte das gelingen, wäre das keine Sensation, sondern das Ergebnis besonnener, analytischer Arbeit - und großer Finanzkraft.

Mythos 1: Liverpool ist einer der emotionalsten Klubs überhaupt

Jürgen Klopp, der die Hände zu Fäusten ballt, auf und ab hüpft, weil die Energie raus muss; Fans, die zu Tausenden "You'll Never Walk Alone" anstimmen; eine Mannschaft, der schier unmögliche Siege gelingen: Das ist in etwa das Bild, das viele vor Augen haben, wenn sie an Anfield denken.

Der Verein sei "eine Mischung aus Atmosphäre, Emotion, Verlangen und fußballerischer Klasse", sagte Klopp nach dem 4:0 gegen Barcelona im Rückspiel des Champions-League-Halbfinals. Was er nicht sagte: Der englische Fußballklub, der mit am stärksten für Emotionen steht, wird so analytisch geführt wie kaum ein anderer.

Liverpool setzt auf Daten, wenn es um wichtige Entscheidungen wie Transfers geht. Zwar spielen sie auch bei anderen Topvereinen der Premier League eine Rolle, aber nirgends eine so große wie bei den Reds. Ein Bericht des "New York Times Magazine"  veranschaulicht das.

Weil Liverpool auf Daten vertraut, kam der Wechsel von Mohamed Salah zustande

Weil Liverpool auf Daten vertraut, kam der Wechsel von Mohamed Salah zustande

Foto: Adam Davy / DPA

Das Magazin beleuchtet die Rolle von Ian Graham im Klub. Graham promovierte einst in Theoretischer Physik in Cambridge, heute ist er Liverpools "Director of Research". Seine Daten zeigten ihm demnach, dass ein gewisser Stürmer, der nach einer kurzen, erfolglosen Zeit beim FC Chelsea als England-inkompatibel galt und nun in Italien spielte, sehr wohl das Zeug zum Premier-League-Superstar hat. Er empfahl seinen Chefs einen Transfer. Mohamed Salah wechselte dann tatsächlich nach Liverpool, angeblich für 42 Millionen Euro. Das ist zwei Jahre her; er wurde seither beide Male Torschützenkönig in England.

In Liverpool geht seit der Übernahme durch die Fenway Sports Group aus den USA kaum etwas ohne Daten. Die Besitzer kamen einst selbst mittels Datenlese zu wirtschaftlichem Erfolg. Aber Daten allein garantieren keine Siege. Der Verein setzt weiter auf konventionelles Scouting, gewiss auch auf Klopps Intuition. Wahrscheinlich ist es genau diese Symbiose, die Liverpool aktuell so erfolgreich macht.

Mythos 2: Dank Klopp spielt Liverpool mit Leidenschaft statt Taktik

Man kann einem Fußballtrainer wohl kaum ein größeres Kompliment aussprechen als dieses: Wenn Mannschaften von Jürgen Klopp auf dem Rasen stehen, ist das unverkennbar. Der Rhythmus ist 90 Minuten lang hoch, die Intensität enorm, das war schon in Dortmund so, und Klopp ist es gelungen, mit diesem Stil auch in der Premier League erfolgreich zu sein.

Es wird viel häufiger vertikal gespielt als quer, die Spieler sprinten mehr als andere, nach Ballverlusten wird sofort nachgesetzt. Das wirkt auf den Zuschauer mitreißend und mutig. Als "Vollgasfußball" oder "Heavy-Metal-Fußball" wird Klopps Stil bezeichnet. Als würde Power allein genügen, um Spiele zu gewinnen. Dabei geht häufig unter, wie durchgeplant das Geschehen auf dem Rasen ist.

Die Mittelfeldspieler zum Beispiel achten bei eigenen Angriffen penibel genau darauf, welche Zonen besetzt sein müssen, um im Falle eines Ballverlusts im Sturm gegnerische Konter zu unterbinden. Während zumindest zwei von ihnen stets etwas tiefer postiert sind, rücken die Außenverteidiger, Andrew Robertson und Trent Alexander-Arnold, weiter nach vorn, sie sollen mit ihren Flanken Tore vorbereiten, es ist eines der prägendsten Merkmale der Mannschaft. Für die nötigen Räume sorgen die Stürmer Salah und Sadio Mané. In Ballbesitz dürfen sie kreativ werden; ohne Ball aber befolgen sie strikte Vorgaben.

Trent Alexander-Arnold im Gespräch mit Motivator und Taktiker Klopp

Trent Alexander-Arnold im Gespräch mit Motivator und Taktiker Klopp

Foto: Carl Recine / REUTERS

Oft bewegen sie sich so, dass sie der gegnerische Außenverteidiger decken muss. So verhindern sie, dass er herausrücken und Robertson oder Alexander-Arnold unter Druck setzen kann. Es geht dabei um metergenaue Positionierungen, die Disziplin erfordern.

Klopp mag ein großer Motivator sein. Aber er ist auch ein großer Taktiker. Liverpool gewinnt seine Spiele nicht nur dank des größeren Willens, sondern weil das Team taktisch in vielen Bereichen herausragend gut ist.

Mythos 3: Liverpool ist der Underdog unter den englischen Topteams

Zwischen von Scheichs und Oligarchen geführten Großklubs in England mag Liverpool manchen als sympathischer Außenseiter gelten, aber das führt in die Irre.

Der "Guardian" beschäftigte sich vergangene Woche  mit den Bilanzen der 20 Premier-League-Klubs, die Zahlen stammen aus der Saison 2017/2018. Das Resultat ist erstaunlich.

Demnach zahlte Liverpool für seinen Kader 264 Millionen Pfund (umgerechnet rund 300 Millionen Euro). Etwas mehr als Meister Manchester City (260 Millionen Pfund), mehr als Chelsea (246), mehr als Arsenal (240). Nur Manchester United (296) gab mehr für seine Mannschaft aus. Liverpools Endspielgegner Tottenham Hotspur kam gar nur auf 148 Millionen Pfund - das sind 44 Prozent weniger als Liverpool. Finanziell betrachtet sind im Champions-League-Finale nicht die Reds der Underdog, sondern die Spurs.

Was den Umsatz betrifft, liegt Liverpool an dritter Stelle hinter den Klubs aus Manchester. Die Reds haben sich ihren Erfolg erarbeitet und erkauft. Der Journalist Christoph Biermann erläuterte das im Gespräch mit dem SPIEGEL: Es falle auf, "dass viel Geld für Positionen ausgegeben wurde, auf denen das zuvor unüblich war. Alisson ist einer der teuersten Torhüter der Welt, van Dijk der teuerste Innenverteidiger. Liverpool hat die eigenen Schwachpunkte genau analysiert und sie mit einer aggressiven Transferpolitik ausgebessert", sagte er. Der Klub vereint seine Finanzkraft mit einer cleveren Strategie.

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hatten wir geschrieben, dass Tottenham Hotspur 78,4 Prozent weniger für seinen Kader gezahlt hat als der FC Liverpool. Tatsächlich sind es 44 Prozent. Wir haben die entsprechende Textstelle korrigiert.

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