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St. Pauli und Ewald Lienen Spiritueller Leiter Millerntor

Ewald Lienen ist nicht mehr Trainer des FC St. Pauli. Unsere Autorin betete, dieser Tag würde nie kommen. Andererseits: Ewald bleibt ja und mischt sich ein, auch politisch. Und das ist die Hauptsache.

Schon vor Anpfiff seines ersten Heimspiels hatte er uns im Sack. Dezember 2014, der FC St. Pauli war mal wieder Tabellenletzter, und wir im Block erwarteten nicht viel am Ende dieses unsäglichen Drei-Trainer-Jahrs, freuten uns aber über die kauzige Verpflichtung. Ewald Lienen, der mit Brillenkette und Zettel auftrat, war das Gegenteil eines glatten Konzepttrainers. Wenn wir absteigen, dann bitte mit Stil.

Und dann passierte das: Lienen schritt die Kurven des Millerntors ab, brüllte, zeigte euphorisch auf Leute im Publikum und ballte die Siegesfaust. Es waren bizarre, ekstatische Szenen. Das Stadion tobte und lachte, wir wollten dem kauzigen Herren auf dem Rasen eine Freude machen und riefen "Rette uns, Ewald!" Ewald winkte und brüllte "Ja! Du! Und du! Ja!"

Das Spiel gewannen wir 3:1, es war der erste Sieg nach zehn Spielen, und Ewalds Ehrenrunde vor dem Spiel wurde zur festen Tradition. St. Pauli-Fans sind selten des Personenkults verdächtig (na gut, manchmal schon, aber bei uns gibt es immer gute Gründe dafür!), doch an diesem Tag wurden wir alle zu Ewald-Jüngern. Die Verpflichtung war der Beginn einer großen Liebe, von der wir uns wünschten, dass sie ewig hält. Ewald plus FC St. Pauli 4ever.

Aufgabenbereich "gesellschaftliche Verantwortung"

Nun übergibt Lienen an Co-Trainer Olaf Janßen und bekommt den etwas sperrigen Titel des "Technischen Direktors", er könnte aber auch unter "Spiritueller Leiter Millerntor" fungieren. Welcher andere Verein gönnt sich einen Mitarbeiter mit dem Aufgabenbereich"gesellschaftliche Verantwortung "?

Lienen positioniert sich gegen die AfD ("Dass eine Partei wie diese überhaupt Stimmen bekommen kann, ist erbärmlich") und kommentiert die politische Situation in der Türkei und Russland ("Ebenso erbärmlich!") Noch im November hatte "Sport Bild"-Chef Alfred Draxler gespottet, es sei bemerkenswert, wie Lienen über Trump und die Weltlage philosophiere, "während er mit Pauli absteigt." Wir aber feierten den messianischen Einschlag.

St. Pauli ist nämlich nicht abgestiegen, sondern hat als Tabellensiebter die Klasse gehalten, und Lienen äußert sich immer noch zur Weltlage. Dabei hatten wir, als der Klub nach der Hinrunde mit elf Punkten im Tabellenkeller saß, diskutiert, ob man Ewald als Trainer entlassen müsste. Nein, nicht aus dem Verein entlassen: sondern auf eine andere Position heben. Die jungen Leute über den Trainingsplatz an der Kollaustraße scheuchen, das muss er sich doch nicht mehr antun. Stell dich zu uns in die Kurve, Ewald, genieß die Stimmung, und kommentiere für uns die Welt.

Ohne Ewalds Aura wär hier gar nichts los

Die Klubführung wollte davon nichts wissen, Ewald blieb und bekam mit Janßen einen Co-Trainer (unter der Hand heißt es, Janßen sei der eigentliche Architekt der starken Rückrundenleistung mit 34 Punkten aus 17 Spielen, aber wir wissen: Ohne Ewalds Aura wäre das alles nicht möglich gewesen).

Vergangenen Sonntag gewann der FC St. Pauli sein letztes Saisonspiel beim VfL Bochum 3:1, 5000 St. Paulianer waren mitgereist, ich ebenso. Nach Abpfiff stand Lienen wieder im warmen Liebesregen der Kurve, doch dann schickte er erstmals seinen Co-Trainer Olaf Janßen vor zu den Fans. Wir konnten vor Endorphinen kaum noch stehen, spürten aber, dass da auf dem Platz gerade etwas passiert.

Als mich heute früh im Stau die Nachricht erreichte, dass Lienen nun nicht mehr Trainer ist, schlug ich aufs Lenkrad und brüllte "Scheiße!". Aber ich hab mich schnell beruhigt. Der Verein hat heute alles in die Wege geleitet, damit Ewald ewig bleibt.

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